Andrei Kosyrew Russischer Ex-Außenminister: Putin ist ein rationaler Akteur und setzt keine Atomwaffen ein

Andrei Kosyrew, russischer Außenminister von 1990 bis 1996 (Archivfoto)
Andrei Kosyrew, russischer Außenminister von 1990 bis 1996 (Archivfoto)
© Picture Alliance
Wird Russlands Präsident Wladimir Putin einen Atomkrieg beginnen? Die Angst vor Putins Irrationalität ist seit Beginn des Ukraine-Krieges gewachsen. Andrei Kosyrew war von 1990 bis 1996 Außenminister unter Boris Jelzin. Er glaubt: Russland wird keine Atomwaffen einsetzen.

Mit dem russischen Angriff auf das Kernkraftwerk Saporischschja und dem anschließenden Brand in einem Verwaltungsgebäude des AKW ist die Angst vor einer nuklearen Katastrophe in Europa gewachsen. Auch die Furcht vor einem Atomkrieg ist durch die Ankündigung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die "Abschreckungskräfte" des Landes im Krieg mit der Ukraine in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, gestiegen. Die sogenannten russischen Abschreckungskräfte können nämlich auch Atomwaffen umfassen.

Aber würde Putin wirklich den "roten Knopf" drücken? Nein, meint Andrei Kosyrew. Von Ende 1990 bis 1996 war er russischer Außenminister. Heute lebt er in den USA. Von 2016 bis 2017 war er am Wilson-Center, einem unabhängigen Forschungszentrum in Washington D.C., aktiv. Auf Twitter äußert er sich zu Wladimir Putin und den Befürchtungen um einen Atomkrieg.

Andrei Kosyrew: Putin glaubt eigener Propaganda in Russland

Zunächst führt er aus, ob der russische Präsident irrational sei oder so handele. Die meisten Menschen, insbesondere im Westen, würden seine Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, als "völlig irrational" ansehen. "Ich stimme dem nicht zu. Es ist schrecklich, aber nicht irrational", so Kosyrew.

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Um zu verstehen, warum die Invasion für Putin rational war, müsse man sich in seine Lage versetzen. Putin hätte demnach drei Überzeugungen, die ihn zu seiner Entscheidung geführt haben. Zum einen den Zustand der Ukraine. "Putin glaubte die letzten 20 Jahre, dass die Ukraine kein echter Staat ist und bestenfalls ein Satellitenstaat sein sollte. Der Maidan (die Maidan-Proteste 2013/14, Anm. d. Redaktion) beendete jede Hoffnung, die Ukraine unabhängig und kremlfreundlich zu halten. Er dachte, der Westen stecke dahinter."

Wenn die ukrainische Regierung nicht unabhängig und kremlfreundlich gehalten werden könne, so Kosyrew, "dann wird er (Putin) es offen erzwingen". Der Ex-Außenminister fährt fort: "Er fing auch an, seinen eigenen Propagandisten zu glauben, dass die Ukraine von einer Nazi-Bandera-Junta regiert wird." Ein "perfekter Vorwand", um die Ukraine zu "entnazifizieren", schreibt Kosyrew weiter.

Putin hielt sein Militär für stark und den Westen für schwach

Eine weitere von Putins Überzeugungen sei beim russischen Militär zu finden. "Der Kreml hat die letzten 20 Jahre damit verbracht, sein Militär zu modernisieren", erklärt Kosyrew. Ein Großteil dieses Budgets sei aber gestohlen und für Megayachten in Zypern ausgegeben worden. "Aber als Militärberater kann man das dem Präsidenten nicht melden. Also berichteten sie ihm stattdessen Lügen."

Und als dritten Punkt nennt der ehemalige Außenminister die geopolitische Lage des Westens. "Die herrschende Elite in Russland glaubte ihrer eigenen Propaganda, dass Präsident Biden geistig unfähig sei. Sie dachten auch, die EU sei schwach, weil ihre Sanktionen 2014 so zahnlos waren. Und dann haben die USA ihren Rückzug aus Afghanistan verpfuscht, was dieses Narrativ untermauert."

Wenn man glaube, dass diese drei Punkte wahr seien und man das Ziel verfolge, den "Ruhm des russischen Imperiums" wiederherzustellen, "dann ist es vollkommen rational, in die Ukraine einzudringen", konkludiert Kosyrew über Wladimir Putin. Der russische Präsident habe also in seiner eigenen Wahrnehmung rational gehandelt – allerdings auf Grundlage falscher Tatsachen und Einschätzungen.

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Kosyrew: Westen sollte aus Angst vor Atomkrieg nicht kuschen

"Meiner Meinung nach ist er rational. Angesichts seiner Vernunft glaube ich fest daran, dass er Atomwaffen nicht absichtlich gegen den Westen einsetzen wird. Ich sage absichtlich, weil wahlloser Beschuss in der Nähe eines Kernkraftwerks eine unbeabsichtigte nukleare Katastrophe in der Ukraine verursachen kann."

Kosyrew geht sogar noch einen Schritt weiter: "Die Drohung mit einem Atomkrieg ist ein weiteres Beispiel für seine Rationalität. Der Kreml weiß, dass er versuchen kann, Zugeständnisse zu erpressen, sei es aus der Ukraine oder aus dem Westen, indem er mit seiner letzten verbleibenden Karte im Spiel die Säbel rasseln lässt: Atomwaffen."

Der ehemalige Außenminister meint daher, dass der Westen aus Angst vor einem Atomkrieg keine einseitigen Zugeständnisse machen sollte oder seine Unterstützung der Ukraine zu sehr einschränken sollte.

rw