Es ist momentan ein gängiges Bild auf den Straßen Sri Lankas – wobei Gehen eigentlich falsch ist. Stundenlang, teilweise sogar über mehrere Tage, stehen Menschen in der Hauptstadt Colombo und anderen Teilen des Landes an, um an Benzin oder Gas zu kommen. In dem Urlaubsparadies herrscht seit Monaten eine Wirtschaftskrise, die sich in den vergangenen Wochen dramatisch zugespitzt hat. Im Februar stieg die Inflation bei den Lebensmitteln auf 30,2 Prozent, landesweit lag die Inflation bei 17,5 Prozent – ein Jahr zuvor lag sie noch bei 4,2 Prozent.
Die Krise, sie schwebt seit Jahren wie ein Damoklesschwert über dem Land unweit von Indien. Die Asiatische Entwicklungsbank ADB benannte Sri Lanka in einer Untersuchung bereits 2019 als ein Land mit Zwillingsdefizit. "Ein Zwillingsdefizit beschreibt, dass die Ausgaben eines Landes höher als dessen Einnahmen sind und die Produktion von Gütern und Leistungen unzureichend ist", heißt es in dem Bericht. Die Folge: Länder wie Sri Lanka plagen häufig eine hohe Schuldenlast und sie sind dringend auf Fremdkapital angewiesen.
Sri Lanka – von Terroranschlägen und der Corona-Pandemie hart getroffen
Doch genau da hapert es beim Inselstaat – und das in gleich vielerlei Hinsicht. Nach den Terroranschlägen im April 2019 reisten schon weniger Touristen ins Land, mit Ausbruch der Corona-Pandemie lag der Tourismusbereich komplett brach. Lagen die Einnahmen aus der Tourismusbranche 2018 noch bei 4,38 Milliarden US-Dollar, schrumpften diese im Vorjahr auf mickrige 261 Millionen Dollar zusammen. Auch die Ratingagenturen reagierten auf die anhaltende finanzielle Misere des Landes. Ohnehin schon mit einer geringen Kreditwürdigkeit gesegnet, wurde Sri Lanka im Dezember 2021 von der Ratingagentur Fitch auf CC herabgestuft – eines der schlechtesten Ratings überhaupt. Die Folge: Die Geldanleihe für Sri Lanka ist nahezu unmöglich, denn die Gefahr, dass der Inselstaat die Schuld nicht zurückzahlen kann, ist groß.
Die Finanzprobleme des Landes sind zum Teil aber auch hausgemacht und haben vor allem mit einem Nachnamen zu tun: Rajapaksa. Mahinda Rajapaksa ist Premierminister Sri Lankas, sein Bruder Gotabaya, kurz Gota, seit 2019 Präsident des Landes. Ein weiterer Bruder, Basil, war bis zum vergangenen Sonntag Finanzminister, der ältere Bruder Chamal Landwirtschaftsminister, ehe beide Konsequenzen aus dem öffentlichen Druck zogen und zurücktraten. Mahinda, selbst zwischen 2005 und 2015 Präsident des Landes, hatte bereits in seinem Wahlkampf Steuersenkungen angekündigt, die er auch trotz der finanziellen Einbußen des Landes in der Pandemie umsetzte, gleichzeitig zahlte die Regierung großzügig Corona-Hilfen aus.

Fehlentscheidungen des Präsidenten
Als folgenschwere Entscheidung erwies sich auch der Erlass von Präsident Gotabaya Rajapaksa im vergangenen April, dass Pestizide und Düngemittel weder importiert noch verwendet werden dürfen. "Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir letztmals so große Probleme hatten, eine vernünftige Ernte einzufahren", klagte der Reis-Farmer W.M. Seniveratne Anfang März gegenüber der Agentur Reuters. Auf seinen zwei Hektar Land habe er im Vorjahr noch 60 Säcke Reis geerntet, in diesem Jahr seien es zehn. Nach großen Protesten wurde der Erlass von Rajapaksa zwar wieder zurückgenommen, das aber half wenig. Nur in wenigen Teilen des Landes kamen die Düngemittel an, für dieses Jahr werden Einbußen von 30 Prozent bei der Ernte erwartet – was im Gegenzug die Preise für Lebensmittel noch weiter in die Höhe treibt Ein Ende ist noch nicht absehbar. "Das zwischenzeitliche Verbot ist dafür der Hauptgrund. Wir gehen davon aus, dass die Erträge der nächsten Ernte deutlich geringer sein werden", sagte Buddhi Marambe, Professor für Landwirtschaft an der Universität in Peradeniya im Bergland Sri Lankas. Die Kosten für Lebensmittel dürften auch noch in den nächsten vier bis fünf Monaten steigen, schätzte er.
Doch nicht nur der Reis ist knapp, sondern auch andere grundlegende Bedürfnisse. Weil es in dem Land nur wenige Milchbauern gibt, muss Sri Lanka Milchpulver importieren, das zuletzt immer teurer wurde. Ein Kilo des Pulvers kostete Anfang April 1945 Rupien (rund sechs Euro), Anfang Dezember lag der Preis noch bei 1200 Rupien (rund 3,60 Euro). Auch die Preise für andere wichtige Lebensmittel wie Zucker, Eier oder Kokosnussöl sind zuletzt stark angestiegen. Gleichzeitig sinkt der Wert der Rupie ins Bodenlose. Allein im März verlor sie im Vergleich zum Dollar 40 Prozent an Wert, auch weil die Regierung vom festen Wechselkurs abwich und schwankende Wechselkurse, das sogenannte Floating, einführte. Die steigenden Preise sorgen vielerorts für Verzweiflung. "Meine monatlichen Kosten lagen normalerweise bei 30.000 Rupien (rund 92 Euro) im Monat. In diesem Monat habe ich schon 83.000 Rupien (rund 254 Euro) ausgegeben", klagt Vani Susai im "Indian Express". Ihre Einkünfte liegen hingegen nur bei 55.000 Rupien im Monat.
Stundenlange Stromausfälle im ganzen Land
Die Krise hat mittlerweile auch den Energiesektor des Landes erreicht. Seit Wochen sind Benzin und Gas knapp und wenn vorhanden, werden auch aufgrund der weltwirtschaftlichen Lage im Energiesektor, horrende Preise aufgerufen. Dabei sind viele der Einwohner auf Benzin für ihre Mofas und Tuk-Tuks und Gas zum Kochen angewiesen. Stundenlang, teils tagelang, stehen die Menschen an, um an Benzin und Gas zu kommen – dabei sind beim Warten bereits Menschen ums Leben gekommen. "Unser Tagesablauf ist darauf beschränkt, in einer Schlange zu stehen", sagt Malkanthi Silva CNN. "Wenn wir Gas brauchen, ist da eine Schlange. Wenn wir Milchpulver brauchen, ist da eine Schlange. Wenn wir Medikamente brauchen, ist da eine Schlange."
Gerade die Schwierigkeiten im Energiesektor stellen viele der 22 Millionen Einwohner des Landes vor Probleme. Weil auch Kraftwerken das Benzin fehlt, kommt es seit Wochen immer wieder zu stundenlangen Stromausfällen im ganzen Land, denn ein Drittel der Stromproduktion des Landes kommt von ölbetriebenen Kraftwerken. Ohne Strom aber lässt es sich in vielen Betrieben nicht arbeiten, Supermärkte können Lebensmittel nur schwer kühlen, geschweige denn kommen die Einwohner ohne Benzin nur schwer zur Arbeit.
Eine Aussicht auf Besserung der Situation gibt es bislang nicht, denn der Regierung geht langsam das Geld aus. Die Auslandsreserven Sri Lankas sind von 6,9 Milliarden Dollar im Jahr 2018 auf 2,2 Milliarden Dollar im Februar zusammengeschrumpft. Gleichzeitig hat das Land aber 45 Milliarden Dollar Schulden, von denen allein noch in diesem Jahr vier Milliarden Dollar beglichen werden müssen. Nur China und Indien zeigten sich zuletzt bereit, Sri Lanka Geld zu leihen, damit das Land Diesel und Gas kaufen kann. Seit Kurzem gibt es auch Gespräche mit dem Internationalen Währungsfond über neuerliche finanzielle Unterstützung.

Minister treten geschlossen zurück – nur der Präsident nicht
Bis diese eintrifft, könnte jedoch die Regentschaft der Rajapaksas in Sri Lanka beendet sein, denn zuletzt überschlugen sich auch politisch die Ereignisse. Bereits am vergangenen Donnerstag sammelten sich Hunderte Demonstranten, die versuchten, das Haus des Präsidenten zu stürmen. Gotabaya Rajapaksa verhing darauf den Ausnahmezustand, der erst nach fünf Tagen wieder aufgehoben wurde und die Einwohner nicht daran hinderte, trotz Verbots weiterhin auf die Straße zu gehen und gegen Rajapaksa und seine Familie zu demonstrieren. In Folge der Krise traten am Sonntag alle 26 Minister des Landes zurück – nur Gotabaya und Mahinda Rajapaksa blieben im Amt und erklärten, diese auch weiterhin nicht verlassen zu wollen. Gleichzeitig boten sie der Opposition aber eine Regierungsbeteiligung an, die diese jedoch geschlossen ablehnte. "Wir werden dieser Regierung nicht beitreten", sagte Eran Wickramaratne von der größten Oppositionspartei Samagi Jana Balawegaya (SJB). "Die Familie Rajapaksa muss zurücktreten." Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete Abraham Sumanthiran von der Tamilischen Nationalen Allianz: "Sein Angebot, das Kabinett mit Abgeordneten der Opposition neu zu besetzen, ist unsinnig." Tags darauf entzogen mehr als 40 Abgeordnete der Regierungspartei die Unterstützung, Sri Lankas Präsident verlor damit die parlamentarische Mehrheit. Der neu ins Amt berufene Finanzminister Ali Sabry kündigte nach nur einem Tag im Amt seinen Rücktritt an.
Ein Ende der Krise ist derweil nicht in Sicht, Experten gehen davon aus, dass sie sich in den nächsten Wochen und Monaten noch verschlimmern wird. Aus der Not getrieben ergibt sich daher für viele Einwohner eine neue Situation. In Zeiten des Bürgerkriegs flüchteten viele von ihnen aus Angst vor dem Krieg zwischen 1983 und 2009 in das benachbarte Indien, nun löst der Hunger und die Not eine neue Flüchtlingswelle aus.
Quellen: NY Times, CNN, BBC, Süddeutsche Zeitung, NZZ, Indian Express, Asia Development Bank, IWF, India Today, Reuters, dpa