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Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg Zehn Folterstätten in einer Stadt: das Grauen von Isjum

Säcke mit Leichen während der Exhumierung
Säcke mit Leichen während der Exhumierung im kürzlich zurückeroberten Gebiet bei Isjum. Die ukrainischen Behörden entdeckten dort ein Massengrab, in dem Hunderte Menschen verscharrt wurden
© Evgeniy Maloletka / AP / DPA
Mitte September eroberten die Ukrainer in einer Blitzoffensive zahlreiche Gebiete im Osten zurück, darunter auch die Stadt Isjum. Sieben Monate hatten die Invasoren hier geherrscht – und gefoltert, wie Überlebende nun erschreckend detailliert berichten.

5916: Eine Zahl, die die Brutalität im Ukraine-Krieg nicht annähernd erahnen lässt, wohl aber zu beziffern versucht. Nach Zählungen der UN ist das russische Militär seit Beginn des Angriffskriegs für den Tod von 5337 Zivilisten – und 379 Kindern verantwortlich. Nur können Zahlen kaum das Leid vor Ort transportieren. Das können nur die Einzelschicksale. Einen erschreckend detaillierten Einblick in dieses Grauen gibt ein Bericht der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP), deren Journalisten die offenbar systematische Folter von Zivilisten in der vor Kurzem zurückeroberten Stadt Isjum dokumentierten.

Die Recherchen vor Ort hätten ergeben, "dass die russische Folter in Isjum willkürlich, weit verbreitet und für Zivilisten und Soldaten in der ganzen Stadt absolute Routine war", heißt es in dem Anfang der Woche erschienenen Artikel. Ukrainische Verbände hatten die Kleinstadt in der Region Charkiw mit einstmals knapp 50.000 Einwohnern Anfang September in einer breit angelegten Blitzoffensive befreit. Zu diesem Zeitpunkt war der strategisch wichtige Ort mehr als sieben Monate unter russischer Kontrolle. Zum Vergleich: Butscha, der Kiewer Vorort, aus dem im April die bis dato heftigsten Bilder von Zerstörung und offenkundigen Kriegsverbrechen um die Welt gingen, lag einen Monat in russischer Hand.

Die AP-Journalisten haben in ihrem Bericht nach eigenen Angaben zehn Folterstätten in Isjum ausfindig gemacht – darunter eine "tiefe, sonnenlose Grube in einer Wohnanlage", "ein feuchtes unterirdisches Gefängnis", eine "medizinische Klinik, eine Polizeistation und ein Kindergarten".

15 Folter-Überlebende und zwei Familien verschwundener Angehöriger sollen mit den Journalisten gesprochen haben. Entstanden ist wohl eines der bisher eindrücklichsten Zeugnisse von Kriegsverbrechen

"Sie sagten: 'Tanz', aber ich habe nicht getanzt. Also schossen sie auf meine Füße"

"Niemand braucht dich. Wir können dich jederzeit erschießen, einen halben Meter unter der Erde begraben und das war's", soll ein russischer Kommandant den Ukrainer Andrij Kotsar verspottet haben, nachdem man ihm alle Dokumente, die seine bloße Existenz bewiesen, abgenommen habe. Es sei Anfang März gewesen, als die Invasoren ihn gefesselt, die Augen verbunden, geschlagen und für Tage in einem mit Holzbrettern ausgelegten Graben geworfen hätten. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein. Im Laufe der Monate sei Kotsar zwei weitere Male aufgegriffen und gefoltert worden – noch weitaus brutaler. Nach dem ersten Zusammentreffen mit den Russen habe der 26-Jährige Zuflucht in einem örtlichen Kloster gesucht. Als er dessen Mauern eine Woche später verließ, hätte ihn kurz darauf eine Patrouille gefasst. Eine Woche sollen sie ihn diesmal festgehalten und mehrfach gefoltert haben. Seine Entführer hätten sich einen Spaß daraus gemacht, laut zu diskutieren, ob sie ihm Gliedmaßen abschneiden sollten, während sie ihm mit einem Messer die Beine rasierten. "Sie nahmen, ich weiß nicht genau was, einige Eisen- oder Glasstäbe und verbrannten die Haut nach und nach", sagte er den Journalisten.

Ähnlich sei es dem 38-jährigen Mykola Mosyakyn ergangen, berichtet AP. "Sie schlugen mich mit Stöcken. Sie schlugen mich mit den Händen, sie traten mich, sie drückten Zigaretten auf mir aus, sie drückten Streichhölzer auf mir aus", erzählt er. "Sie sagten: 'Tanz', aber ich habe nicht getanzt. Also schossen sie auf meine Füße." Als die Peiniger nach drei Tagen von ihm abgelassen hätten, sollen sie ihn in der Nähe eines Krankenhauses abgesetzt haben – nicht ohne die Drohung: "Sag ihnen, du hattest einen Unfall." Mindestens zwei weitere Männer aus der Nachbarschaft, Vater und Sohn, seien zur gleichen Zeit entführt worden. Der Vater habe den AP-Journalisten nur flüsternd und mit gesenktem Blick von den zwei Wochen Kellerhaft erzählt; sein Sohn habe erst gar nicht darüber sprechen wollen.

Arzt aus Isjum: "Schweigen war die Norm"

Die Schilderungen sind nicht nur deshalb glaubhaft, weil die Überlebenden derart detailliert berichten. Sie decken sich auch mit den Aussagen von Medizinern vor Ort, schreibt AP. Yuriy Kuznetsov, ein Arzt, der während der russischen Besatzung in Isjum Hunderte Menschen behandelt habe, sagte, dass er regelmäßig Verletzungen behandeln musste, die auf Folter schließen ließen – darunter Schusswunden an Händen und Füßen, gebrochene Knochen, schwere Prellungen und Verbrennungen. Doch keines der Opfer habe ihm erklären wollen, woher die Wunden stammten. "Selbst wenn Menschen ins Krankenhaus kamen, war Schweigen die Norm", so Kuznetsov.

Die Einschätzungen stimmen auch mit den Informationen der UN überein. Matilda Bogner, Leiterin der UN-Menschenrechtsmission in der Ukraine, sagte der Nachrichtenagentur, sie habe "weit verbreitete Praktiken der Folter oder Misshandlung von zivilen Gefangenen" durch russische Streitkräfte und ihre Verbündeten dokumentiert. Die Folterung von ukrainischen Soldaten sei gar systemisch. Laut Rachel Denber von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, dienen die Misshandlungen drei Zwecken: Informationen erlangen, vermeintlichen Ungehorsam bestrafen und Angst schüren. "Jeden Tag kommen Angehörige zu uns und sagen, dass ihre Freunde, ihre Familie, von russischen Soldaten gefoltert wurden", sagt Oleksandr Filtschakow, Leiter der Staatsanwalt in der Region Charkiw AP. Wieviele tatsächlich gefoltert wurden, könne er noch nicht abschließend sagen, doch gehe er von mehreren Dutzend Opfern aus.

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447 Menschen im Massengrab – Leichenfunde stimmen mit Berichten der Überlebenden überein

Kotsars und Mosyakyns Schicksale sind nur zwei von vielen: Frauen, die in einer Garage neben Soldatenunterkünften festgehalten und angeblich regelmäßig vergewaltigt wurden. Eigene Räume, die die Besatzer für jeweils verschiedene Foltermethoden (zum Beispiel Elektroschocks oder Waterboarding) reserviert haben sollen. Männer, die in den Wald gingen, um Tannenzapfen zum Heizen zu sammeln und nie wieder zurückkehrten. Es ist ein Bild des Grauens, das die Überlebenden zeichnen.

Nach der Rückeroberung der Stadt Mitte September stießen die ukrainischen Behörden auf ein Massengrab in den Wäldern. Bis heute gruben sie 447 Leichen aus – 30 davon mit sichtbaren Folterspuren wie gefesselten Händen, Messerwunden oder gebrochenen Gliedern, so die Charkiwer Staatsanwaltschaft. All diese Verletzungen, so AP, stimmen exakt mit den Berichten der Überleben überein.

Quelle: Associated Press

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