Russland hat es trotz seiner gewaltigen militärischen Überlegenheit auch nach 100 Tagen Krieg nicht geschafft, den Widerstand der Ukraine zu brechen. Einer der Gründe dafür ist die schlechte Moral innerhalb der Kreml-Truppen. Immer wieder gibt es Berichte von russischen Soldaten, die nicht oder nicht mehr gegen ihre Nachbarn kämpfen wollen. Dabei soll es auch zu Befehlsverweigerungen und Sabotageaktionen gekommen sein.
Es gebe "anekdotische Meldungen" über die schlechte Moral der Truppen, erklärte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums Anfang Mai. Einige Offiziere des mittleren Dienstes auf unterschiedlichen Ebenen, sogar bis hinauf zur Bataillonsebene, hätten sich demnach entweder geweigert, Befehle zu befolgen, oder sie nicht mit dem Eifer befolgt, den man von einem Offizier erwarten würde.
Viele Soldaten wollen nicht in die Ukraine zurück
Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) berichtete zur gleichen Zeit, die russischen Einheiten in der Region Saporischschja im Süden der Ukraine hätten eine sehr niedrige Moral, seien in einem schlechten psychologischen Zustand, beschwerten sich über die Ineffizienz der Operationen in dem Gebiet und betränken sich häufig. Sie würden sogar "auf ihre eigenen Fahrzeuge schießen, um nicht an die Front zu müssen". Fast 20 derartige Fällen habe es laut der Militärverwaltung von Saporischschja gegeben, schrieb die US-Zeitung "Newsweek" Anfang Mai.
Auch unter den Soldaten, die ihren ersten Einsatz in der Ukraine bereits hinter sich haben und nun erneut dorthin sollen, ist der Frust nach Einschätzung von russischen Menschenrechtsanwälten und Aktivisten groß. Mehrere hundert Armeeangehörige, die nicht an militärischen Operationen im Nachbarland teilnehmen wollten, seien mit Rechtshilfeersuchen an ihn herangetreten, sagte der Anwalt Mikhail Benyash aus der südrussischen Stadt Krasnodar Anfang April dem TV-Sender Euronews.
Das Conflict Intelligence Team, ein Medienprojekt, das die Erfahrungen des russischen Militärs in der Ukraine anhand von vertraulichen Interviews und offenem Quellenmaterial untersucht, schätzt laut dem britischen Sender BBC, dass eine beträchtliche Minderheit der russischen Vertragssoldaten aus der ersten Angriffswelle sich weigert, in den Kriegseinsatz zurückzukehren.
Verstörend, erschreckend und unendlich traurig: Bilder aus 100 Tagen Krieg in der Ukraine

Einer dieser frustrierten Soldaten, der zu Beginn der Invasion bereits fünf Wochen lang in der Ukraine gekämpft hat und derzeit zu Hause in Russland ist, schilderte der BBC seine Gefühlslage: "Ich will nicht [zurück in die Ukraine], um zu töten und getötet zu werden", sagte er dem britischen Sender, der ihn Sergej nennt, weil sein richtiger Name nicht veröffentlicht werden soll. Seine Erfahrungen dort hätten ihn traumatisiert.
"Ich hatte gedacht, wir seien die russische Armee, die super-duperste der Welt", erklärte der junge Mann verbittert. Stattdessen sei von ihnen erwartet worden, dass sie selbst ohne grundlegende Ausrüstung, wie Nachtsichtgeräte, operierten. "Wir waren wie blinde Kätzchen. Ich bin schockiert über unsere Armee. Es hätte nicht viel gekostet, uns auszurüsten. Warum hat man das nicht gemacht?"
Soldaten, die "nicht wussten, wie man schießt"
Sergej sei als Wehrpflichtiger in die Armee eingetreten — die meisten russischen Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren müssten ein Jahr Wehrdienst ableisten, schreibt die BBC. Nach einigen Monaten habe er sich jedoch für zwei Jahre als Vertragssoldat verpflichtet, was ihm ein Gehalt einbrachte.
Im Januar sei er in die Nähe der ukrainischen Grenze zu — wie ihm gesagt worden sein — einer militärischen Übung geschickt worden. Einen Monat später, am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland seine Invasion startete, sei er aufgefordert worden, in die Ukraine einzumarschieren. Fast sofort sei seine Einheit unter Beschuss geraten.

"Nun, wie ihr inzwischen gemerkt habt, ist das kein Scherz", habe sein Kommandeur gesagt, als sie auf einem verlassenen Bauernhof übernachtet hätten. Er sei völlig schockiert gewesen, erzählte Sergej der BBC. Sein erster Gedanke sei gewesen: "Passiert mir das wirklich?"
Seine Einheit sei ständig beschossen worden, sowohl während des Vormarsches als auch beim Ruhen in der Nacht. Zehn seiner 50 Kameraden seien getötet und 10 weitere verwundet worden. Fast alle seien jünger als 25 Jahre gewesen. Er habe von russischen Soldaten gehört, die so unerfahren gewesen seien, dass sie "nicht wussten, wie man schießt und das eine Ende einer Mörsergranate nicht vom anderen unterscheiden konnten".
Nach Ansicht von Sergej fehlte es den russischen Truppen eindeutig an einer Strategie. Verstärkung sei nicht angekommen und die Soldaten seien für die Einnahme einer großen Stadt schlecht ausgerüstet gewesen, berichtet er dem britischen Sender. "Wir sind ohne Hubschrauber losgezogen — einfach in einer Kolonne, als ob wir zu einer Parade unterwegs wären."
Er glaube, dass seine Befehlshaber geplant hatten, Hochburgen und wichtige Städte sehr schnell einzunehmen und dass sie erwartet hatten, dass die Ukrainer einfach kapitulieren würden, erzählte der junge Soldat. "Wir stürmten vorwärts, mit kurzen Übernachtungen, ohne Schützengräben, ohne Erkundung. Wir haben niemanden in der Nachhut zurückgelassen, so dass es keinen Schutz gab, wenn jemand von hinten kam und uns angriff." Er glaube, dass die Zahl der Opfer unter den russischen Streitkräften vor allem deshalb so hoch gewesen sei. "Hätten wir uns schrittweise bewegt und die Straßen nach Minen abgesucht, hätten viele Verluste vermieden werden können."
Putins Truppen: eine schrecklich marode Armee

Anfang April wurde Sergej der BBC zufolge über die Grenze in ein Lager auf der russischen Seite zurückgeschickt. Die Truppen waren demnach aus der Nordukraine abgezogen worden um sich neu zu formieren. Später im Monat habe er den Befehl erhalten, in die Ukraine zurückzukehren und seinem Befehlshaber daraufhin mitgeteilt, dass er dazu nicht bereit sei.
"Er sagte, es sei meine Entscheidung", zitierte der Sender den Russen. "Sie haben nicht einmal versucht, uns davon abzubringen, weil wir nicht die Ersten waren." Trotzdem habe er sich rechtlich beraten lassen und ein Anwalt habe ihm und zwei gleichgesinnten Kollegen geraten, ihre Waffen zurückzugeben und zum Hauptquartier ihrer Einheit zurückzukehren. Dort sollten sie schriftlich erklären, dass sie "moralisch und psychologisch erschöpft" seien und nicht weiter in der Ukraine kämpfen könnten. Andernfalls könnte sein Verlassen der Einheit als Desertion gewertet werden und eine zweijährige Haftstrafe in einem Disziplinarbataillon nach sich ziehen.
Militärrecht erlaubt russischen Soldaten das Verweigern
Nach Angaben des russischen Menschenrechtsanwalts Alexej Tabalow gegenüber der BBC versuchen die Befehlshaber der Armee, Vertragssoldaten einzuschüchtern, damit sie bei ihren Einheiten bleiben. Das russische Militärrecht enthalte jedoch Klauseln, die es den Soldaten erlaubten, das Kämpfen zu verweigern. Auch Euronews berichtet, dass in solchen Fällen keine Strafverfahren eingeleitet würden. Denjenigen, die sich weigerten, in die Ukraine zu gehen, "droht eigentlich nur eine Entlassung wegen Nichterfüllung der Vertragsbedingungen", sagte einer der Anwälte, die die Soldaten beraten, dem Sender.
Sergej möchte zwar nicht an die Front zurückkehren, er will aber den Rest seines Wehrdienstes in Russland absolvieren, um unvorhergesehene Konsequenzen zu vermeiden — obwohl seine Einsatzverweigerung akzeptiert wurde, wie die BBC schreibt. Das bedeute aber, dass er keine Garantie habe, während seiner restlichen Dienstzeit nicht doch in die Ukraine zurückgeschickt zu werden. "Ich kann sehen, dass der Krieg weitergeht, er wird nicht verschwinden", sagte Sergej dem Sender. "In diesen Monaten, die ich noch übrig habe, kann alles — auch das Schlimmste — passieren."