Majdan-Proteste 2014 Vor zwei Jahren befahl Putin die Invasion – doch in der Ukraine herrscht schon lange Krieg

Vor zehn Jahren eskalierte die Gewalt auf dem Majdan gegen Demonstranten. Das Leiden der Ukraine begann lange vor Putins Angriffskrieg. Ein persönlicher Rückblick unseres Reporters.
Majdan 2014: Sicherheitskräfte patrouillieren auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, Ukraine
Majdan 2014: Sicherheitskräfte patrouillieren auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Über Wochen hinweg haben hier Demonstranten gegen die Regierung der Ukraine protestiert
© Maxim Dondyuk

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Ruslana Chasipowa, das Gesicht weiß geschminkt, zupft wild die Saiten ihres Kontrabasses und singt an diesem Abend Ende Januar in den Zuschauerraum des Grand Théâtre in Luxemburg hinein. Die 37-Jährige scheint die gleiche Energie zu zeigen, mit der sie vor zehn Jahren von der Bühne des Euromajdan in Kiew in die Menge aus Hunderttausenden Ukrainern rief: "Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?"

Damals sang sie von der Hoffnung, heute vom Schmerz.

Mit ihrer Band Dakh Daughters und einer Mischung aus ukrainischem Folk und moderner Musik gehörte sie zu denen, die ihrem Land kulturell ein eigenes Gesicht verliehen haben. Über Monate war Ruslana Chasipowa im Winter 2013/2014 Teil des Aufstands gegen den autoritären Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Im Februar 2014 floh der Präsident nach Russland, aber was wie ein Sieg schien, war nur der Beginn eines neuen Kampfes. Nur einige Tage später ließ Wladimir Putin die Krim besetzen, kurz darauf begannen von Russland unterstützte Separatisten den Krieg in der Ostukraine. Und acht Jahre später, am 24. Februar 2022, befahl Putin die Invasion. Seit zehn Jahren herrscht Krieg im Land.

Chasipowa floh wie viele ihrer Landsleute, sie wurde mit ihren Kindern in der Normandie aufgenommen. Sie versucht, wie an diesem Abend in Luxemburg, den inzwischen kriegsmüden Westen aufzurütteln. Aber Chasipowa selbst ist erschöpft. "Ich verstehe, dass die Menschen hier ihre eigenen Probleme haben", so hatte sie es im Gespräch am Morgen vor dem Auftritt formuliert. Sie erzählt von ihrem fünfjährigen Sohn: "Wir beide sprechen Ukrainisch miteinander – aber mit seinem Spielzeug redet er schon Französisch." Millionen Ukrainer verließen wie Chasipowa ihre Heimat. Und je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie wieder zurückkehren.

Es ist ein langer Weg vom beschaulichen Luxemburg bis nach Kiew: Kein Flugzeug fliegt mehr in die Ukraine, man muss zunächst nach Budapest, es folgen: ein Tag in einem ungarischen Zug. Ein paar Stunden in einem finsteren Grenzort. Eine Nacht in einem ukrainischen Zug. Viele Stunden, in denen die Bauernhäuser, Felder und Baumreihen der Ukraine am Fenster vorbeiziehen.

20. Februar 2014: Fassungslos über die Gewaltorgie

Kiew ist nach dem ersten Kriegsschock schnell wieder zum Leben erwacht: Trotz der russischen Luftangriffe kann man hier wieder Austern essen, in Clubs – zumindest tagsüber – tanzen gehen. An diesem windigen Abend Anfang Februar sind auf dem berühmten Majdan im Zentrum nur wenige Menschen unterwegs. In 60 Meter Höhe breitet eine golden glänzende slawische Schutzgöttin ihre Arme aus, am Rand steht das klobige Hotel Ukrajina. Dahinter wartet seit Jahren eine Baugrube darauf, die Symbolik ist vielsagend, dass in ihr ein Museum der Freiheit entsteht.

Durch ein Fenster im Treppenhaus des Hotels Ukrajina, hoch oben über dem Platz, sah ich vor zehn Jahren, am Morgen des 20. Februar 2014, Demonstranten in Richtung der Präsidialverwaltung ziehen, gebückt, versteckt hinter Holzschilden. Dann hörte man das Zischen von Schüssen – und einer nach dem anderen taumelte, getroffen von den Kugeln der Spezialkräfte. Als ein Geschoss das Fenster durchschlug, durch das ich nach unten sah, verkroch ich mich in meinem Zimmer, fassungslos über die Gewaltorgie.

Erschienen in stern 09/2024