Aus dem stern-Archiv
Der im russischen Straflager ums Leben gekommene Kremlkritiker Alexej Nawalny hätte seinem Team zufolge gegen den in Deutschland inhaftierten "Tiergartenmörder" ausgetauscht werden können. Wadim K. hatte 2019 in Berlin einen Exil-Tschetschenen ermordet. K. soll den Mord im Auftrag staatlicher russischer Stellen verübt haben.
Der stern führte im Dezember 2019 ein Interview mit dem britischen Historiker und Experten für russische Geheimdienste, Mark Galeotti. Aufgrund der aktuellen Nachrichtenlage veröffentlichen wir das Gespräch an dieser Stelle erneut.
Offenbar hat der russische Geheimdienst mitten in Berlin einen Mann exekutieren lassen: Der Georgier Selimchan Changoschwili starb im August durch zwei Kopfschüsse. Wer wollte sich an dem Opfer rächen und wofür?
Das ist natürlich schwer zu sagen. Die Russen suggerieren, dass Changoschwili einen Terroranschlag in Russland geplant habe. Das ist möglich. Denkbar ist auch, dass er irgendwie daran beteiligt war, Agenten für die CIA zu werben. Die Russen würden darin einen feindlichen Akt sehen.
Gibt es noch andere Theorien, was hinter dem Mord steckt?
Eine andere Möglichkeit ist, dass die Russen einfach die Lage testen wollten. Nach dem Mordanschlag auf Sergej Skripal in Salisbury im März 2018 wiesen mehr als 20 Länder russische Diplomaten aus, Deutschland damals allein schon vier. Russland hat diese vereinte Reaktion stark getroffen. Vielleicht wollte der Kreml wissen: War das ein Einzelfall? Oder war Salisbury der Beginn einer neuen Solidarität?
Sollte das zutreffen, dürfte Russland zufrieden sein: Deutschland wies nach dem Tiergarten-Mord nur zwei Diplomaten aus. Weitere Reaktionen blieben aus.
Absolut. Sollte das ein Test gewesen sein, dürften sich die Russen freuen.
Die "New York Times" berichtete im Oktober erstmals von einer Spezialeinheit des russischen Militärgeheimdienstes, die für Morde zuständig sei. Könnte der Tiergarten-Mord auf deren Konto gehen?
Diese Operation entspricht meiner Meinung nach nicht der Handschrift, die wir vom Militärgeheimdienst kennen. Ich kann mich nicht an eine Operation erinnern, in der dieser Geheimdienst nicht über eigene Offiziere agiert hat. Nach allem, was wir derzeit über den Täter wissen, war er kein Geheimdienstoffizier. Sein Äußeres, etwa die Tätowierungen, sprechen eher für einen Hintergrund aus dem organisierten Verbrechen. Alles, was das internationale Recherchenetzwerk Bellingcat zu dem Mord herausgefunden hat, lässt eher an den russischen Inlandsgeheimdienst denken.
Das heißt – es gibt anscheinend nicht nur eine Gruppe von Agenten, die im Ausland für Russland mordet, sondern gleich mehrere?
Weil der Militärgeheimdienst diese Leute hat, sollten wir nicht den Schluss zulassen, dass andere Abteilungen sie nicht auch haben.