Wer sich zwei Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in Slowjansk, ein paar Kilometer von der umkämpften Frontlinie im Donbas, mit Soldaten unterhält, der spricht mit Menschen, die sich mehr als alle anderen ein Ende des Krieges wünschen. Sie haben zwei Winter in den Schützengräben hinter sich, ihre Kameraden sterben sehen, ihre Familien aus den Augen verloren, und sie stellen sich immer lauter die Frage, warum ihre Altersgenossen in Kiew in Cafés sitzen, während sie sich in der kalten, feuchten Erde des Donbass ihre Gesundheit ruinieren und ihr Leben riskieren.
Die Soldaten haben eine ziemlich nüchterne Sicht auf die Frage, ob die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Gewinnen im Sinne von: die Russen aus dem Land werfen, die besetzten Gebiete inklusive der Halbinsel Krim befreien, so wie es im am Donnerstag beschlossenen angenommenen Antrag der Ampel-Koalition heißt. Sie fragen ganz nüchtern: Womit? Und mit wem?
Eine neue Mobilisierung ist in der Ukraine bitter notwendig
Das eine Problem ist hausgemacht: Der ukrainische Präsident hat sich zu lange davor gedrückt, die Mobilisierung weiterer 500.000 Ukrainer offensiv zu verteidigen. Die Maßnahme ist bitter nötig, um jene, die seit zwei Jahren an der Front sind, zu entlasten – und ein Gefühl der Gerechtigkeit wiederherzustellen, das über das letzte Jahr zum Teil verloren gegangen ist.
Zugleich hat sich über die letzten Monate jedoch gezeigt, dass Masse eben doch eine Rolle spielt: Ein Land mit einer Bevölkerung von weit über 140 Millionen kann eben doch mehr Menschen mobilisieren als ein Land, in dem nach aktuellen Schätzungen zufolge noch gut 30 Millionen leben. "Zu lange gab es die Annahme, dass die Ukrainer auch militärisch überlegen sind, bloß weil sie moralisch überlegen sind", hat eine ukrainische Freundin jüngst zu mir gesagt. Es war eine irrige Annahme. Natürlich spielt die Moral der Truppe eine Rolle im Krieg, aber in dem brutalen Abnutzungskrieg, den wir seit fast eineinhalb Jahren sehen, hilft individueller Heldenmut nur sehr bedingt.
Zur zweiten Frage: Womit sollen die Ukrainer sich gegen die Russen zur Wehr setzen? Hier kommt dem Westen seit Beginn des Kriegs eine Schlüsselrolle zu, der er sich stellen muss. Denn die Idee, die zuweilen von Wagenknecht wie Trump geäußert wird – beendet die Waffenlieferungen, dann endet der Krieg – könnte realitätsferner nicht sein: Wir sehen schon in den vergangenen Monaten, wozu der Ausfall der US-amerikanischen Waffenlieferungen führt. Die Ukrainer geraten in die Defensive, müssen Quadratkilometer um Quadratkilometer ihres Landes aufgeben. Diese Strategie würde unweigerlich in die Kapitulation der Ukraine führen, und das Blut der dann von den russischen Besatzern gefolterten und getöteten Ukrainer würde an unseren Händen kleben.
Ein Sieg der Ukraine wäre vielleicht möglich gewesen
Zugleich hat sich aber herausgestellt: Ein militärischer Sieg der Ukraine gegen Russland, der im besten Fall sogar den Zusammenbruch des Putin-Regimes bedeuten würde, ist unter den gegebenen Bedingungen nicht realistisch. Vielleicht wäre er möglich gewesen in den ersten Monaten des Kriegs, wenn gleich all die Waffen geliefert worden wären, die der Westen, auch Deutschland, erst nach zu langem Zögern bereit stellen wollte.
Die politische Entwicklung in Washington lässt kaum noch Hoffnung darauf, dass die USA wieder die Unterstützerrolle für die Ukraine einnehmen werden, die sie bis Ende 2023 innehatten. Es ist der Moment der Wahrheit für die Europäer, insbesondere für Deutschland, das sich lange geziert hat, die Führungsrolle anzunehmen: Schaffen wir es in der EU in dieser entscheidenden Situation, nationale Befindlichkeiten und bürokratische Hindernisse zu überkommen und den Ukrainern zumindest so viel Unterstützung zukommen zu lassen, um die russische Großoffensive, die sich gerade an verschiedenen Frontabschnitten aufbaut, zu stoppen? Eine gute Nachricht war Ende Januar die Einigung der EU-Mitglieder, sowohl über finanzielle Hilfe für die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro bis 2027 als auch über weitreichende Waffen- und Munitionslieferungen.
Der Abnutzungskrieg in der Ukraine ist ein Aderlass
Zugleich sollten wir jedoch vermehrt darüber nachdenken, welche Möglichkeiten zur Beendigung dieses Kriegs es neben den großen Worten Sieg und Niederlage gibt. Denn die politischen Führer vieler europäischer Länder geraten unter Druck: Ihre Bevölkerung will wissen, wie eigentlich der Plan für eine Beendigung des Kriegs aussieht? Eines ist klar: Eine Fortsetzung des Abnutzungskriegs in der jetzigen Intensität bedeutet insbesondere für die Ukrainer einen Aderlass, der die zukünftige Entwicklung des Landes in Frage stellt.
Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, dass heute 41 Prozent der Europäer dafür eintreten, die Ukraine zu einem Friedensabkommen mit Russland zu bewegen, 31 Prozent sagen, man solle die Ukraine weiter dabei unterstützen, die besetzten Gebiete zu befreien. Auch in der Ukraine wächst der Anteil derer, die zu Kompromissen wie Gebietsabtretungen bereit sind. Anfang Dezember lag ihr Anteil bei 19 Prozent, der ukrainische Politikwissenschaftler Wolodymyr Fesenko erklärte mir bei meiner jüngsten Reise nach Kiew, im Sommer könnte die Mehrheit der Bevölkerung dafür eintreten.
Zur Verhandlungsmasse, sollte es denn zu Gesprächen kommen, gehört auch die Frage der Nato-Mitgliedschaft: Wenn diese im Moment unrealistisch ist, dann müssen an ihre Stelle Garantien treten, die eine Wiederaufnahme des Kriegs durch Russland nach wenigen Jahren unmöglich machen. Eine wichtige Komponente dabei ist eine militärische Ausstattung, die das Land in eine Art Stachelschwein verwandelt, also so gut gerüstet, dass Moskau es nicht wagen wird, noch einmal anzugreifen.
Die Krux ist jedoch: Wie bekommt man Putin an den Verhandlungstisch? Für ihn läuft derzeit vieles nach Plan. Das Wunschprojekt, an dem schon die Sowjets fleißig arbeiteten, scheint wahr zu werden: Ein Keil wird getrieben zwischen USA und Europa. Ironie der Geschichte: Dahinter steht vor allem ein Amerikaner, Donald Trump. Möglich, dass es Länder wie China oder die Türkei sind, die Verhandlungen in Gang setzen könnten – Europäer und Amerikaner sind, anders als 2014, schon zu eindeutig Partei geworden in diesem Konflikt.
Uns Europäern bleibt in dieser Situation nichts übrig, als auf das Beste zu hoffen – dass Trump die Wahlen doch nicht gewinnt. Aber uns zugleich auf das Schlimmste vorzubereiten. Das bedeutet zum Einen, selbst wehrhaft zu werden, wie es jüngst Verteidigungsminister Boris Pistorius gesagt hat. Denn wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen: Wladimir Putin, das hat er über die letzten zwei Jahrzehnte bewiesen, lässt sich nur von einem Gegenüber zum Umdenken bewegen, der Stärke demonstriert.
Zum Anderen bedeutet es, dass wir durchhalten bei der Unterstützung für die Ukraine, auch wenn wir nach zwei Jahren Krieg am liebsten wegschauen würden. Kehren wir noch einmal zu jenen Soldaten im Osten der Ukraine zurück – wie gerne würden sie aus dem Schützengraben klettern und zu ihren Familien zurückkehren.
Aber sie wissen, dass sie keine Wahl haben: Würden sie nach Hause gehen, stünde die russische Armee nach wenigen Tagen vor ihrer Haustür.