Very British Briten fürchten um die Demokratie

In Großbritannien schlägt die Durchsuchung der Büros eines Parlamentariers hohe Wellen. Die mit der nationalen Sicherheit begründete Aktion wird in der Öffentlichkeit als Schritt in den Polizeistaat gesehen. Fakt ist, die Durchsuchung bricht mit der politischen Kultur des Landes.

Wie jedes Jahr fuhr die goldene Kutsche vor das Parlamentsgebäude an der Themse, die Queen entstieg dem Gefährt, ganz in feiner weißer Seide gekleidet und mit schwerer Krone auf dem Kopf. Sie wurde dann wie alle Monarchen seit Jahrhunderten durch das Parlamentsgebäude in den Saal des Oberhauses geleitet, setzte sich auf ihren goldenen Thron und begann, die Gesetzesvorhaben der Regierung Gordon Brown für die nächsten Monate vorzutragen. Lords und Ladies in roten Roben mit weißen Pelzbesätzen lauschten ihren Worten ebenso andächtig wie der Führer der konservativen Opposition David Cameron und Premierminister Gordon Brown.

Cornelia Fuchs

London ist der Nabel der Welt und Europa immer noch "der Kontinent". stern-Korrespondentin Cornelia Fuchs beschreibt in ihrer wöchentlichen stern.de-Kolumne das Leben zwischen Canary Wharf und Buckingham Palace, zwischen Downing Street und Notting Hill.

Doch unter der Patina der Tradition brodelt es im englischen Parlament. Seit Tagen schlagen sich Opposition, Regierung und Polizei Anschuldigungen um die Ohren. Vom "SOS-Ruf für die britische Demokratie" ist die Rede, von einer geheimnisumwitterten und nicht zur Rechenschaft zu ziehenden Regierung, die Rechte von Parlamentariern mit den Füßen tritt. Anlass für die Aufregung ist die Verhaftung des konservativen Oppositionspolitikers Damian Green am vergangenen Donnerstag Mittag. Anti-Terror-Einheiten durchsuchten sein Haus, sein Parlaments- und Abgeordneten-Büro, beschlagnahmten Computer, Mobiltelefone und kistenweise Aktenmaterial. Neun Stunden lang wurde er festgehalten und verhört. Der Vorwurf der Polizei: Green habe sich "des Fehlverhaltens im öffentlichen Amt verschworen".

Vertrauliche Papiere gingen an die Presse

Der Politiker hatte von einem Beamten im Innenministerium seit Jahren vertrauliche Papiere erhalten, mit geheimen Positionen und Informationen der Regierung. Im November 2007 ließ er mit deren Hilfe an die britische Presse durchsickern, dass Regierungsstellen 5000 illegalen Arbeitern Lizenzen ausstellten; in diesem Herbst machte er einen Regierungsbericht öffentlich, der einen Anstieg der Verbrechensrate nach der Kreditkrise voraussagt. Nach Darstellung der Polizei bestehe durch Greens Indiskretionen "Gefahr für die nationale Sicherheit".

Premierminister Gordon Brown und seine Innenministerin Jacqui Smith verneinen vehement, dass sie von der Polizeiaktion gewusst haben oder sie gar veranlassten. Die Polizei hat nach ihren Aussagen auf eigene Initiative gehandelt, der verantwortliche Polizeikommissar Sir Paul Stephenson stellte fest: "Ich wehre mich gegen den Eindruck, dass ich es erlauben würde, dass auf unsere Entscheidungen ungebührlichen Einfluss genommen werden könnte zur Erreichung politischer Ziele. So verfahren wir nicht."

Althergebrachte Rituale zur Parlaments-Eröffnung

Wer verstehen will, wie sehr die Inhaftierung eines der ihren das Selbstverständnis der Parlamentarier verletzte, muss sich nur die Rituale der Parlaments-Eröffnung vor Augen führen. Seit dem 17. Jahrhundert tritt hier vor Eintreffen der Königin im House of Lords ein Mann im schwarzen Kostüm vor die Türen des Unterhauses, um die Abgeordneten ins Oberhaus zu geleiten. Ihm werden die schweren Holzflügel jedes Jahr vor der Nase zugeschlagen. Erst nachdem er dreimal fest gegen die Eisenbeschläge geklopft hat, wird ihm aufgetan, und die Abgeordneten ziehen in ordentlichen Zweier-Reihen zum House of Lords, um dort der Königin zu lauschen.

Zurück geht diese Tradition auf die versuchte Verhaftung von fünf Abgeordneten durch Charles I. Der Monarch wurde später von aufständischen Bürgern zum Tode verurteilt. Dass nun ein Parlamentarier festgenommen wurde, weil er seinen Wählern Informationen über Regierungsgeschäfte weitergab, ist für viele Briten eine Ungeheuerlichkeit. Nicht wenige meinen, dass die harte Vorgehensweise der Polizei ein deutliches Zeichen für den Weg Großbritanniens zum Polizeistaat sei.

Keine Personalausweise auf der Insel

Das mag zu weit gehen, doch Großbritannien hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Offen wird gerade diskutiert, dass Polizei- und Grenzbeamte bald jeden auf der Straße nach seinen Papieren fragen dürfen, auch ohne Anfangsverdacht. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, viele Briten sind stolz darauf, dass es auf ihrer Insel keine Personalausweise gibt.

Es gibt erste Hinweise, dass die Vorwürfe gegen Damian Green in den nächsten Wochen fallen gelassen werden könnten, zumindest scheint die Generalanwaltschaft kein großes Interesse zu haben, den Fall zur Anklage zu bringen. Doch während die Exekutive bemüht ist, sich vom Vorwurf des Aktionismus zu befreien, befeuert ein enger Vertrauter des Premierministers die Kontroverse. Peter Mandelson, Wirtschaftsminister und Spindoktor noch aus Zeiten der Blair-Regierung, warf der Opposition in einer BBC-Radiosendung vor, die illegalen Aktivitäten eines Angestellten des Innenministeriums befördert zu haben: "Ich glaube, die Aufregung ist ein eigennütziger Vorwand der Konservativen. Sie verstecken so ihr geheimes Einverständnis, regelmäßig Papiere aus dem Innenministerium zu erhalten." Mandelson betont, dieses Vorgehen sei gegen jedes Recht und Gesetz.

Angesichts der politischen Ränkespiele in Westminster veröffentlichte der Politik-Professor Anthony King in der Tageszeitung "Daily Telegraph" heute neue Umfragen unter britischen Wählern. Danach glauben 70 Prozent, dass Politiker zu wenig im nationalen Interesse kooperieren und drei Viertel glauben, dass sie nicht die Wahrheit sagen. Anthony King schreibt: "Die Skepsis gegenüber unseren Politikern hat sich in Verachtung gewandelt."