Er wollte einen Platz in der Geschichte – als Sieger, als der Mann, der "historisch russische Territorien", wie er es nennt, wieder vereint hat. Und Wladimir Putin bekommt seinen Platz in der Geschichte. Allerdings nicht jenen, den er so gerne hätte. Selbst die Glorie des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland färbt nicht mehr auf ihn ab.
Als Putin um 9 Uhr Ortszeit 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Roten Platz tritt, hat er ein Ziel: Seinen Krieg in der Ukraine auf eine Stufe mit dem sowjetischen Triumph über Hitler zu stellen. Wie er dieses Kunststück zu vollbringen gedachte, ohne das Wort Krieg zu verwenden, bleibt sein Geheimnis. Wenig überraschend scheitert das Kunststück.
Einsamer Wladimir Putin
Putins Auftritt am 9. Mai wurde mit Bangen erwartet: Was würde er tun? Die Generalmobilmachung ausrufen? Ukraine offiziell den Krieg erklären?
Nichts davon geschieht. Stattdessen bekommt die Welt einen Mann zu sehen, der in seiner Einsamkeit erstickt. Kein einziger internationaler Vertreter war gewillt, Putins Scharade beizuwohnen. Man habe niemanden eingeladen, weil es kein Jubiläum zu feiern gebe, hieß es vorher als Erklärung aus dem Kreml. Eine fadenscheinige Erklärung. In den letzten 20 Jahren hat sich Putin nicht an diesem Umstand gestört und wusste wenigstens die Präsidenten jener Länder hinter sich, die einst zusammen mit Russland den Sieg über Nazi-Deutschland errangen.
Alte Kisten statt Wunderwaffen
Im Jahr 2022 ist es nur sein Lakai Sergej Schoigu, der Putin zur Seite steht. Und der Verteidigungsminister hat nicht viel zu bieten. Keine Wunderwaffen, keine Kinschal-Hyperschall-Luft-Boden-Raketen, kein Supertorpedos – alles, was über den Roten Platz vor Putin poltert, sind alte Kisten, die gutes Brennmaterial abgeben.
Wenige Minuten vor der Parade wird bekannt, dass keine Panzer über die Pflastersteine rollen werden. Über Moskau sind an diesem Tag auch keine Flugzeuge zu sehen. Die Flugshow wird am Morgen abgesagt – weil das Wetter schlecht sei, behauptet der Kreml. Aber wo? Über der russischen Hauptstadt ist blauer Himmel und vereinzelte Wolken zu sehen. Eine Sichtweite von zehn Kilometern bescheinigen Meteorologendienste.

Das orwellsche Märchen
Dieser Widerspruch entgeht auch der Kreml-Propaganda nicht. Im Staatsfernsehen trichtert man den Millionen Moskauern in jedem dritten Satz ein, draußen sei schlechtes Wetter – sie könnten es nur nicht sehen.
Tatsächlich soll Putin nicht mehr genug Flugzeuge haben, um sie sie bei der Parade zu zeigen. Dieses Gerücht machte in Moskau schon vor einigen Tagen die Runde. Das orwellsche Märchen vom schlechten Wetter wird sie nicht entkräften. Zumal es Zeiten gab, als die Wolken mit Chemikalien aufgelöst wurden, damit die Flugzeuge die russische Trikolore in den Himmel ziehen können.
Und so sind es an diesem 77. "Tag des Sieges" nicht donnernde Motorengeräusche, die an das Ende des blutigsten Kriegs in der Menschheitsgeschichte erinnern, sondern ein einsamer Mann in einer versteckten kugelsicheren Weste, bewacht von einer kleinen Armee von Geheimdienstlern, der sich im Heldentum anderer suhlt, um die eigene Niederlage nicht sehen zu müssen.