Noch vier Tage, dann könnten wir mehr wissen.
Der 9. Mai ist ein besonderer Tag. Russland feiert den "Tag des Sieges", wie viele andere Nationen in Osteuropa auch, und mit ihm das Ende des "Großen Vaterländischen Krieges", den Sieg über Hitler-Deutschland. Es ist ein historisch aufgeladener Tag, besonders auch für einen fanatischen Geschichts- und Zahlenfreak wie Wladimir Putin.
Für den Kriegstreiber aus dem Kreml ist der 9. Mai der ideale Tag, um eine Verbindung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ukraine-Krieg zu ziehen und eine Botschaft des Triumphes zu verkünden. Am dann 75. Tag seines Feldzuges, der in Russland nicht nur leere Supermarktregale und einen Aderlass auf dem Arbeitsmarkt zur Folge hat. War es das wert?
Putin wird schon irgendeine Erfolgserzählung einfallen, da sind sich Beobachter sicher, wenngleich die Realität anders aussieht: schlechte Planung, unerwartete Gegenwehr und hohe Verluste – ein "Blitzsieg", den sich Putin in der Ukraine offenkundig versprochen hatte, ist ausgeblieben, von einem "Tag des Sieges" kann nicht die Rede sein. Der Bundeskanzler bilanziert: "Putin hat sich vollständig verrechnet."
Noch vier Tage, die Uhr tickt. Die Frage: Wie weit würde Putin für einen Erfolg gehen?
"Wie das Kaninchen vor der Schlange"
Bis zu 500 Kilometer und mutmaßlich abertausende Tote weit, so sollen die Angaben aus Moskau vom Mittwoch wohl verstanden werden: Im Rahmen einer Übung hätten rund hundert Soldaten in Kaliningrad den "elektronischen Start" von mobilen ballistischen Raketensystemen vom Typ Iskander mit Atomwaffen simuliert, einer Kurzstreckenrakete mit bis zu 500 Kilometern Reichweite, wie das Verteidigungsministerium erklärte.
Weder Ort noch Zeitpunkt der Simulation dürften zufällig gewählt worden sein. Die russische Enklave Kaliningrad liegt an der Ostsee zwischen den beiden EU- und Nato-Mitgliedsstaaten Polen und Litauen, darüber hinaus folgt der Test den immer schrilleren Drohgebärden Putins und seiner Kremlposse, etwa "blitzschnelle" Vergeltung gegen überengagierte Unterstützer der Ukraine zu üben und die Gefahr eines Dritten Weltkriegs für "sehr real" zu halten.
Nur ein gigantisches Stahlwerk trotzt noch dem Fall Mariupols

Die Androhungen einer weiteren Eskalation werden immer unverhohlener, die russische Rhetorik insgesamt schärfer – doch wie real ist die Gefahr eines Atomschlags wirklich? Stand jetzt: Unwahrscheinlich bis ausgeschlossen, meinen Spezialisten für Nuklearwaffen, Russlandforscher und Außenpolitiker. Putin will offenkundig etwas anderes bezwecken.
- "Wir sollten uns das Narrativ des Dritten Weltkrieges oder eines Atomkrieges, das von Putin bewusst lanciert wird, nicht zu eigen machen", mahnt etwa FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann in der "Süddeutschen Zeitung", Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Zwar wisse man, dass Putin unberechenbar sei. "Trotzdem empfehle ich Ruhe zu bewahren. Wenn wir aufgrund dieser verbalen Drohungen wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen, dann werden wir wie gelähmt nichts unternehmen."
Moskau versucht offenkundig Angst zu schüren und die Entschlossenheit der westlichen Allianz bei der Unterstützung und Aufrüstung der Ukraine zu unterminieren. Vor allem die militärische Hilfe dürfte den Einsatz für Russland ungemein erhöhen, Kosten und Verluste in der Truppe in die Höhe treiben. Das gilt es für den Kreml zu verhindern oder wenigstens auszubremsen.
Berichten zufolge hat Russland seine Luftangriffe auf wichtige Versorgungspässe in der Ukraine erhöht, um den milliardenschweren Waffenfluss aus dem Westen zu behindern. Jedoch mit bislang kaum nennenswertem Erfolg, wie es von US-Seite heißt. Könnte Russland die Kriegsführung vor diesem Hintergrund weiter intensivieren und brutalisieren – und womöglich zu Nuklearwaffen greifen?
- "Putin spielt hier bewusst mit den Urängsten unseres Landes", meint auch der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter. Ängste in Deutschland vor einem Atomkrieg hält er für unbegründet. Das Ziel des russischen Präsidenten sei eine Spaltung Europas, zumal ein Einsatz von Atomwaffen das Land für viele Jahre in der gesamten Welt isolieren würde. Doch schließe er den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen in der Ukraine zumindest nicht aus. Diese seien für das Schlachtfeld entwickelt worden. "Hier geht es nicht um strategische Atomwaffen – also Lang- oder Mittelstreckenraketen oder Atombomben, die mit Bombern weitergebracht werden."
Niemand kann in den Kopf von Wladimir Putin schauen
Russland ist, gemessen am Arsenal, die größte Atomwaffenmacht der Welt. Wie auch die USA besitzt das Land strategische und taktische Nuklearwaffen. Der Unterschied liegt eigentlich in der politischen Definition des Einsatzzweckes, kurz und sehr vereinfacht gesagt: Strategische Nuklearwaffen dienen der Abschreckung, taktische würden zur Bekämpfung gegnerischer Streitkräfte und militärischer Ziele eingesetzt.
Bei der russischen Simulation eines Atomangriffs in Kaliningrad wurde offenbar der Einsatz taktischer Nuklearwaffen geübt. Doch auch einen Einsatz von taktischen Atomwaffen halten Experten für unwahrscheinlich.
- "Ich denke, darüber besteht Konsens in der Sicherheitsforschung", sagte der Moritz Kütt vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg zum "Spiegel". Militärisch würde der Einsatz ohnehin keinen Sinn ergeben, da die Ukraine über Ziele – wie etwa riesige Waffenlager oder Flugzeugträger – gar nicht verfüge. Auch wären die Folgen eines Einsatzes für Russland selbst mit Nachteilen verbunden, so Kütt zum Nachrichtenmagazin. So könne radioaktiver Niederschlag Russland oder auch Nato-Gebiete erreichen, das Land weiter isolieren – einen Atomwaffeneinsatz könnten auch die wohlgesonneren Indien und China nicht ignorieren.
Völlig auszuschließen ist das Nuklearszenario natürlich nicht. Die Entscheidung, wie der weitere Verlauf des Krieges aussehen könnte, scheint allein im Kopf des Kremlherrschers zu fallen – einem Ort, der hier als wahnhaft und dort als entrückt beschrieben wird, und sich bislang allen Versuchen der Kartografierung und Krisendiplomatie zu verweigern scheint. Putin ist unberechenbar.
Entsprechend ernst ist die Lage. Die einen warnen angesichts der russischen Drohgebärden vor weiterer Waffenhilfe für die Ukraine. Mehrere Prominente formulierten diese Sorge in einem offenen Brief an Kanzler Scholz. Die anderen halten hingegen an der militärischen Unterstützung fest, mahnen, die Ukraine und die westlichen Werte nicht verloren zu geben. Ebenfalls in einem Offenen Brief an den Kanzler.
Ein Risiko, auch für Russland
Die Nuklearwaffenspezialistin Lydia Wachs gehört zu denjenigen, die einen Nukleareinsatz für "extrem unwahrscheinlich" halten.
- "Der Einsatz von Nuklearwaffen hätte für Russland einen enorm hohen Preis", sagte die Expertin für Sicherheitspolitik und Proliferation in Osteuropa dem "Spiegel". Da amerikanische ordnungspolitische Interessen direkt betroffen seien, würde ein Atomangriff gegen die Ukraine nicht unbeantwortet bleiben – ob Nato-Mitglied oder nicht. Ein globaler Atomkrieg drohe, daran könne auch Russland kein Interesse haben.
Aber was, wenn das russische Regime unter extremen Druck gerät – und jede Rationalität verliert?
- Dann "stiege wohl auch das Risiko, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt", so Wachs. "Derzeit scheinen wir davon aber sehr weit entfernt zu sein." Die Sanktionen wirkten zwar, Putins Machtapparat sei dadurch aber noch nicht direkt gefährdet. "Der Kreml nutzt jedoch das Narrativ über die angeblich bedrohte Existenz von Russland, um uns im Westen einzuschüchtern: Aus Angst vor einem Atomkrieg sollen wir vor weiteren Unterstützungsmaßnahmen zurückschrecken – darum geht es."
Ähnlich argumentieren auch Liana Fix, Russland-Expertin der Körber-Stiftung, und Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
- Russland nutzt nukleare Drohungen seit Beginn des Kriegs als ein politisches Instrument, um Angst zu schüren und den Westen von Sanktionen und militärischer Unterstützung für die Ukraine abzuhalten", sagte Fix zum "Handelsblatt".
- "Durch Nichthandeln werden wir Russland nicht davon abhalten, das zu tun, was es tun will", meint Meister daher. "Es würde eher noch dazu führen, dass Moskau weitergeht."
Der simulierte Atomangriff scheint sich daher in die bisherigen Drohgebärden und Machtdemonstrationen aus Moskau einzureihen. Was daraus folgt, bleibt abzuwarten. Noch vier Tage, dann könnten wir mehr wissen.
Quellen: "T-Online.de", "Tagesspiegel", "Welt", Deutsche Welle, "Berliner Zeitung", "Süddeutsche Zeitung", "The Guardian", SWR, "Der Spiegel" (Experte Kütt / Expertin Wachs), BR, "Die Zeit", "Handelsblatt"