Das Gespräch wurde in Teilen vor dem Angriff Aserbaidschans geführt. Im Zuge der aktuellen Ereignisse hat der stern Stefan Meister weitere Fragen gestellt und das Interview aktualisiert.
Herr Meister, Aserbaidschan hat Bergkarabach neun Monate lang von der Außenwelt abgeschnitten, die armenische Bevölkerung dort ausgehungert und bombardiert seit heute Morgen die Region. Was will Aserbaidschan mit dem Angriff erreichen?
Das Ziel der aserbaidschanischen Regierung ist klar: Sie will die Karbach-Armenier mit militärischer Gewalt vertreiben.
Wie begründet Aserbaidschan seinen Angriff auf Bergkarabach?
Der Deckmantel des Angriffs ist ein Anti-Terror-Einsatz gegen armenische Separatisten. Es werden aber gezielt zivile Gebäude zerstört. Durch einen sogenannten „humanitären Korridor“ soll die armenische Zivilbevölkerung Bergkarabach nach Arminen verlassen können. Allein, dass Aserbaidschan die Routen, über die die Armenier vertrieben werden „humanitäre Korridore“ nennt, macht klar: Die Aussagen der aserbaidschanischen Regierung sind gut vorbereitete Propaganda.
Was würde es für die Karabach-Armenier bedeuten, wenn Aserbaidschan in diesem Krieg die Kontrolle über Bergkarabach erlangt?
Ich würde sagen, dass kein Armenier unter aserbaidschanischer Führung sicher ist. Es gab vor Beginn der aserbaidschanischen Militäroperation bereits Fälle, in denen Armenier von aserbaidschanischen Sicherheitskräften an Grenzübergängen misshandelt wurden. Ich weiß, das klingt radikal, aber der Hass der Menschen aufeinander ist so groß, dass ein friedliches Zusammenleben aktuell nicht möglich erscheint.
Schon vor den neuesten Kampfhandlungen sprach Luis Moreno Ocampo, der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, angesichts der aserbaidschanischen Blockade von Bergkarabach von einem Völkermord an den Karabach-Armeniern. Stimmen Sie ihm zu?
Wir sollten vorsichtig sein und den Begriff "Völkermord" nicht inflationär benutzen, um ihn nicht zu entwerten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Aserbaidschan dauerhaft ein Gebiet auf seinem Territorium akzeptiert, auf dem mehrheitlich Armenier leben. Die Blockade hat zu Lebensmittelknappheit und zum Teil zu Hunger geführt.
Was muss passieren, damit Aserbaidschan die Kampfhandlungen einstellt?
Russland und die Türkei könnten diese Angriffe stoppen. Denn sie haben Aserbaidschan auch die Erlaubnis erteilt. Die EU und die USA können nicht viel tun, auch Sanktionen werden Aserbaidschan kaum stoppen. Das ist auch das Resultat von fehlendem Engagement in dem Konflikt in den letzten Jahren durch den Westen.
Armenien wirkt machtlos und nicht in der Lage, sich zu wehren. Warum ist Aserbaidschan in diesem aktuellen Konflikt so viel mächtiger?
Armenien hat die vergangenen Jahrzehnte über auf Russland als Sicherheitspartner gesetzt. Doch die russischen Interessen haben sich seit Februar 2022 gewandelt: Der Ukraine-Krieg verschlingt Putins militärische Ressourcen. Russland braucht wegen westlicher Sanktionen den Nord-Süd Korridor in den Iran, der über Aserbaidschan geht. Außerdem braucht Moskau die Türkei als alternative Handelsroute und, um Sanktionen zu umgehen. Putin ist also bereit, Kompromisse auf Kosten der Armenier zu machen. Das bedeutet auch, dass die sogenannten Friedenstruppen, die Russland in Bergkarabach stationiert hat, passiv bleiben.
Hat Armenien denn keine anderen Verbündeten?
Im Prinzip ist Armenien energiepolitisch, wirtschaftlich und militärisch komplett von Russland abhängig. Dass dieser außenpolitische Fokus auf Russland ein Fehler ist, hätten die armenischen Eliten früher sehen müssen. Aber frühere Regierungen wollten den Status quo, also den außenpolitischen Fokus auf Russland, nicht verändern. Bis 2020 war der ja auch vorteilhafter für Armenien. Doch sie übersahen, wie Aserbaidschan das Militär enorm aufrüstete und noch enger mit der Türkei kooperierte. Armenien hat sich in Teilen also selbst in diese Sackgasse manövriert und nicht die Phase genutzt, als es stärker war, um einen für sich vorteilhafteren Friedensvertrag auszuhandeln.
Vor diesem neuen Krieg hatte der Iran der armenischen Regierung Waffenlieferungen angeboten. Könnte das die Lage der Armenier verbessern?
Nein. Das macht deutlich, dass Armenien sozusagen auf einer Seite mit den "Losern" der Geopolitik ist. Wie auch Russland steht der Iran unter massiven westlichen Sanktionen. Wenn die armenische Regierung weiter nur mit diesen geächteten Staaten kooperiert, schaffen sie sich geopolitisch auf lange Sicht erst recht keine Verhandlungsspielräume. Gleichzeitig gibt es kaum Alternativen.
Welche Möglichkeiten hat die EU jetzt, im Konflikt zu vermitteln?
Die EU hat den Moment verpasst, mehr Verhandlungsmasse gegenüber Aserbaidschan aufzubauen. Baku schafft jetzt Fakten und solange die EU nicht bereit ist, wirklich mit Peacekeeping in der Region aktiv zu werden, wird sie nicht viel erreichen können. Das ist auch eine außenpolitische Bankrotterklärung für die EU und den Westen.
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bezieht die EU vermehrt Gas aus Aserbaidschan. Halten sich die Mitgliedstaaten deshalb mit ihrem Engagement in der Region zurück?
Eine ganze Reihe von EU-Mitgliedsstaaten bekommen Gas aus Aserbaidschan. Beispielsweise Italien, Griechenland und Bulgarien. Diese Länder werden sicher nicht aktiv. Es gibt also kein spezifisches Interesse der EU-Mitgliedsstaaten, in den Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien eine größere Rolle zu spielen. Brüssel kann also nicht viel tun.
Angesichts dieser in Teilen selbstverschuldeten Lage scheint Bergkarabach für die Armenier verloren.
Davon ist auszugehen, und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan hat das ja auch offiziell bereits anerkannt. Jetzt geht es nur noch darum, Sicherheitsgarantien für die Karabach-Armenier auszuhandeln und diese tatsächlich durchzusetzen. Sollte es zu keiner Einigung kommen, wird es weitere militärische Eskalationen geben.