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Drohende ethnische Säuberung Südkaukasus-Experte zum Angriff auf Bergkarabach: "Aserbaidschan schafft jetzt Fakten"

Drohende ethnische Säuberung: Südkaukasus-Experte zum Angriff auf Bergkarabach: "Aserbaidschan schafft jetzt Fakten"
Sehen Sie im Video: Aserbaidschan startet Großangriff auf Armenier-Exklave Bergkarabach.




Aserbaidschan hat nach Wochen zunehmender Spannungen eine militärische Offensive gegen die auch von Armenien beanspruchte Kaukasus-Region Bergkarabach gestartet. Das Verteidigungsministerium in Baku erklärte am Dienstag, es handele sich um einen Einsatz gegen Terroristen. Ziel sei es, die Entwaffnung und den Abzug von Formationen der armenischen Streitkräfte sicherzustellen und ihre militärische Infrastruktur zu neutralisieren. Armenien rief russische Friedenstruppen zur Hilfe. Die Europäische Union forderte den Stopp der Kampfhandlungen und erklärte sich zur Vermittlung in dem Konflikt bereit. Die offene Konfrontation folgt einem monatelangen Nervenkrieg um Bergkarabach. In der überwiegend von Armeniern bewohnten Exklave verschlechterte sich die Lage der Bevölkerung zusehends, nachdem Aktivisten mit Billigung der aserbaidschanischen Regierung die einzige Straßenverbindung nach Armenien blockiert hatten. Armenien streitet seit Jahrzehnten mit Aserbaidschan um die Kaukasus-Region. Das überwiegend von Armeniern bewohnte Bergkarabach gehört nach internationaler Auffassung zu Aserbaidschan, von dem es sich aber 1991 losgesagt hat.

Mit seinem neuen Angriff auf Bergkarabach zielt Aserbaidschans Staatschef Ilham Aliew auf die ethnische Säuberung von Bergkarabach. Die EU hat den Moment verpasst, den Konflikt friedlich zu lösen. Südkaukasus-Experte Stefan Meister ordnet ein. 

Das Gespräch wurde in Teilen vor dem Angriff Aserbaidschans geführt. Im Zuge der aktuellen Ereignisse hat der stern Stefan Meister weitere Fragen gestellt und das Interview aktualisiert. 

Herr Meister, Aserbaidschan hat Bergkarabach neun Monate lang von der Außenwelt abgeschnitten, die armenische Bevölkerung dort ausgehungert und bombardiert seit heute Morgen die Region. Was will Aserbaidschan mit dem Angriff erreichen?
Das Ziel der aserbaidschanischen Regierung ist klar: Sie will die Karbach-Armenier mit militärischer Gewalt vertreiben.

Wie begründet Aserbaidschan seinen Angriff auf Bergkarabach?
Der Deckmantel des Angriffs ist ein Anti-Terror-Einsatz gegen armenische Separatisten. Es werden aber gezielt zivile Gebäude zerstört. Durch einen sogenannten „humanitären Korridor“ soll die armenische Zivilbevölkerung Bergkarabach nach Arminen verlassen können. Allein, dass Aserbaidschan die Routen, über die die Armenier vertrieben werden „humanitäre Korridore“ nennt, macht klar: Die Aussagen der aserbaidschanischen Regierung sind gut vorbereitete Propaganda.

Portrait von Dr. Stefan Meister
© DGAP-Zsofia Pölöske

Dr. Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien. Davor war er Direktor des Südkaukasus Büros der Heinrich Böll Stiftung in Georgien. Er ist Co-Autor mehrerer Bücher über den Prosowjetischen Raum.

Was würde es für die Karabach-Armenier bedeuten, wenn Aserbaidschan in diesem Krieg die Kontrolle über Bergkarabach erlangt?
Ich würde sagen, dass kein Armenier unter aserbaidschanischer Führung sicher ist. Es gab vor Beginn der aserbaidschanischen Militäroperation bereits Fälle, in denen Armenier von aserbaidschanischen Sicherheitskräften an Grenzübergängen misshandelt wurden. Ich weiß, das klingt radikal, aber der Hass der Menschen aufeinander ist so groß, dass ein friedliches Zusammenleben aktuell nicht möglich erscheint.

Schon vor den neuesten Kampfhandlungen sprach Luis Moreno Ocampo, der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, angesichts der aserbaidschanischen Blockade von Bergkarabach von einem Völkermord an den Karabach-Armeniern. Stimmen Sie ihm zu?
Wir sollten vorsichtig sein und den Begriff "Völkermord" nicht inflationär benutzen, um ihn nicht zu entwerten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Aserbaidschan dauerhaft ein Gebiet auf seinem Territorium akzeptiert, auf dem mehrheitlich Armenier leben. Die Blockade hat zu Lebensmittelknappheit und zum Teil zu Hunger geführt.

Was muss passieren, damit Aserbaidschan die Kampfhandlungen einstellt?
Russland und die Türkei könnten diese Angriffe stoppen. Denn sie haben Aserbaidschan auch die Erlaubnis erteilt. Die EU und die USA können nicht viel tun, auch Sanktionen werden Aserbaidschan kaum stoppen. Das ist auch das Resultat von fehlendem Engagement in dem Konflikt in den letzten Jahren durch den Westen.

Armenien wirkt machtlos und nicht in der Lage, sich zu wehren. Warum ist Aserbaidschan in diesem aktuellen Konflikt so viel mächtiger?
Armenien hat die vergangenen Jahrzehnte über auf Russland als Sicherheitspartner gesetzt. Doch die russischen Interessen haben sich seit Februar 2022 gewandelt: Der Ukraine-Krieg verschlingt Putins militärische Ressourcen. Russland braucht wegen westlicher Sanktionen den Nord-Süd Korridor in den Iran, der über Aserbaidschan geht. Außerdem braucht Moskau die Türkei als alternative Handelsroute und, um Sanktionen zu umgehen. Putin ist also bereit, Kompromisse auf Kosten der Armenier zu machen. Das bedeutet auch, dass die sogenannten Friedenstruppen, die Russland in Bergkarabach stationiert hat, passiv bleiben.

Drohende ethnische Säuberung: Südkaukasus-Experte zum Angriff auf Bergkarabach: "Aserbaidschan schafft jetzt Fakten"

Hat Armenien denn keine anderen Verbündeten?
Im Prinzip ist Armenien energiepolitisch, wirtschaftlich und militärisch komplett von Russland abhängig. Dass dieser außenpolitische Fokus auf Russland ein Fehler ist, hätten die armenischen Eliten früher sehen müssen. Aber frühere Regierungen wollten den Status quo, also den außenpolitischen Fokus auf Russland, nicht verändern. Bis 2020 war der ja auch vorteilhafter für Armenien. Doch sie übersahen, wie Aserbaidschan das Militär enorm aufrüstete und noch enger mit der Türkei kooperierte. Armenien hat sich in Teilen also selbst in diese Sackgasse manövriert und nicht die Phase genutzt, als es stärker war, um einen für sich vorteilhafteren Friedensvertrag auszuhandeln.

Vor diesem neuen Krieg hatte der Iran der armenischen Regierung Waffenlieferungen angeboten. Könnte das die Lage der Armenier verbessern?
Nein. Das macht deutlich, dass Armenien sozusagen auf einer Seite mit den "Losern"  der Geopolitik ist. Wie auch Russland steht der Iran unter massiven westlichen Sanktionen. Wenn die armenische Regierung weiter nur mit diesen geächteten Staaten kooperiert, schaffen sie sich geopolitisch auf lange Sicht erst recht keine Verhandlungsspielräume. Gleichzeitig gibt es kaum Alternativen.

Umkämpftes Bergkarabach

Bergkarabach ist eine Region im Südkaukasus und etwa so groß wie das Saarland. Das Territorium wird seit Jahrhunderten mehrheitlich von Armeniern bevölkert, liegt aber auf dem Staatsgebiet des Nachbarlandes Aserbaidschan. Um das kleine Stück Land wurden seit dem Ende der Sowjetunion schon zwei Kriege geführt.

Rückschau: Der sowjetische Staatschef Josef Stalin schlug Bergkarabach 1921 der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu. Nach dem Zerfall des Ostblocks gewannen die Armenier 1994 in einem blutigen Krieg die Kontrolle über das Gebiet zurück und die automone Republik Bergkarabach wurde gegründet. Deren Gebiet gehörte völkerrechtlich aber weiter zu Aserbaidschan. Im zweiten großen Krieg gewann 2020 Aserbaidschan in sieben bis dahin von Armenien besetzen aserbaidschanischen Regionen und Teilen von Bergkarabach wieder die Oberhand.

Nach einer von Russland vermittelten Waffenruhe musste Armenien große Gebiete an das militärisch überlegene Aserbaidschan abtreten. Doch der Waffenstillstand blieb brüchig. Seit dem Sommer 2023 blockiert die aserbaidschanische Regierung den Latschin-Korridor, den einzigen Weg, über den Armenien Bergkarabach versorgen kann. Experten sehen Anzeichen für einen Völkermord. Ein neuer Angriff Aserbaidschans wurde seit Wochen befürchtet.

Welche Möglichkeiten hat die EU jetzt, im Konflikt zu vermitteln?
Die EU hat den Moment verpasst, mehr Verhandlungsmasse gegenüber Aserbaidschan aufzubauen. Baku schafft jetzt Fakten und solange die EU nicht bereit ist, wirklich mit Peacekeeping in der Region aktiv zu werden, wird sie nicht viel erreichen können. Das ist auch eine außenpolitische Bankrotterklärung für die EU und den Westen.

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bezieht die EU vermehrt Gas aus Aserbaidschan. Halten sich die Mitgliedstaaten deshalb mit ihrem Engagement in der Region zurück?
Eine ganze Reihe von EU-Mitgliedsstaaten bekommen Gas aus Aserbaidschan. Beispielsweise Italien, Griechenland und Bulgarien. Diese Länder werden sicher nicht aktiv. Es gibt also kein spezifisches Interesse der EU-Mitgliedsstaaten, in den Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien eine größere Rolle zu spielen. Brüssel kann also nicht viel tun.

Angesichts dieser in Teilen selbstverschuldeten Lage scheint Bergkarabach für die Armenier verloren.
Davon ist auszugehen, und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan hat das ja auch offiziell bereits anerkannt. Jetzt geht es nur noch darum, Sicherheitsgarantien für die Karabach-Armenier auszuhandeln und diese tatsächlich durchzusetzen. Sollte es zu keiner Einigung kommen, wird es weitere militärische Eskalationen geben.

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