Seit dem Mittag des 19. September tut Aserbaidschan das, was in Europa offenbar inzwischen wieder zur Tagesordnung gehört: Es löst einen Konflikt mit Waffengewalt. Reich geworden mit dem Verkauf von Öl und Gas nach Europa, militärisch hochgerüstet von der Türkei und Israel, zerschlägt die aserbaidschanische Armee die Teile der Streitkräfte von Bergkarabach, die nach der ersten aserbaidschanischen Großoffensive 2020 noch übrig waren. Eine Boden-Offensive scheint zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht begonnen zu haben, jedoch verfügt die aserbaidschanische Armee nach der Zerschlagung der armenischen Raketenabwehr in dem Gebiet über die Lufthoheit.
Der Konflikt um die kleine Region auf aserbaidschanischen Staatsgebiet ist komplex: Traditionell von Armeniern bewohnt, machte sich das zu Sowjetzeiten autonome Gebiet in einem Krieg gegen Aserbaidschan 1988 unabhängig. In einem Krieg, der bis 1994 dauerte, besetzten die Armenier aber auch eine riesige Pufferzone rund um Bergkarabach und zerstörten von Aserbaidschanern bewohnte Städte wie Agdam. Die Rückholung der Gebiete gehörte in Aserbaidschan seitdem zur raison d’etre, der Hass auf die Armenier wurde von staatlicher Seite Jahr um Jahr genährt.

Friedensgespräche liefen immer wieder ins Leere, auch weil Armenien, überzeugt von der eigenen Stärke und sich unter Russlands Schutzschirm fühlend, kaum zu Kompromissen bereit war. Als Aserbaidschan 2020 in einem 44 Tage langen Krieg die Pufferzone und einen Teil Bergkarabachs zurückeroberte, blieb die Reaktion aus dem Westen verhalten: Gegen das Argument der Aserbaidschaner, die territoriale Integrität des Landes wieder herstellen zu wollen, ließ sich wenig einwenden, wenn man gleichzeitig gegenüber Russland auf das Prinzip der territorialen Integrität im Fall der Ukraine – Stichwort Krim – bestand.
Drei Jahre später, der Westen absorbiert vom russischen Krieg gegen die Ukraine, scheint der aserbaidschanische Autokrat Ilham Aliew einen günstigen Moment zu sehen, um den Konflikt zu seinen Gunsten zu entscheiden: Seit Dezember 2022 isolierte Aserbaidschan Bergkarabach zunehmend, indem es die Landverbindung in Richtung Armenien über den sogenannten Latschin-Korridor kappte. Von den einst 140.000 Armeniern, die in Bergkarabach lebten, dürften wohl unter diesen Umständen noch 60.000 bis 70.000 übrig sein.
In per Flugblatt und online verbreiteten Botschaften an die armenischen Bewohner gibt Aserbaidschan nun zwar vor, die Angriffe seien nicht gegen die Zivilbevölkerung gerichtet, es seien humanitäre Korridore "an der Latschin-Straße und in andere Richtungen" eingerichtet. De facto bedeutet das jedoch für die Armenier, die noch in der Hauptstadt Stepanakert und anderen Siedlungen verblieben sind, dass sie nach Armenien fliehen müssen, wenn sie nicht in die Hände der Aserbaidschaner fallen wollen. Denn ohne Unterstützung von außen wird die Verteidigung von Bergkarabach bald zusammenbrechen. Übrig bleiben könnten lediglich Guerilla-Gruppen in den Wäldern.
Selbst der armenische Staat hält sich zurück
Auf Unterstützung kann Bergkarabach nicht einmal von Seiten seines engsten Verbündeten rechnen: dem armenischen Staat, der die international nicht anerkannte Republik Bergkarabach wirtschaftlich und militärisch unterstützt hatte, solange dies praktisch möglich war. In einem Statement am Dienstagnachmittag gab sich der armenische Premierminister Nikol Paschinjan aber maximal distanziert: Es gebe Versuche äußerer und innerer Kräfte, Armenien in den Krieg hineinzuziehen, dies werde ihnen jedoch nicht gelingen. Paschinjan betonte, die Armee Armeniens sei in Bergkarabach nicht präsent.
Realistisch gesehen kann Armenien seit dem Verlust der direkten Landverbindung nach Bergkarabach 2020 kaum noch etwas für die dortigen Armenier tun. Ein militärischer Vorstoß in Richtung Stepanakert ist in dem bergigen Gebiet aussichtslos. Zumal das einen offenen Krieg gegen das hochgerüstete Aserbaidschan bedeuten würde. Aber ob Paschinjan, der 2018 auf einer proeuropäischen Welle gewählt wurde, den Verlust Bergkarabachs politisch überlebt, ist ungewiss: Lange Jahre war die armenische politische Elite von Karabach-Kämpfern dominiert, ein möglicher Verlust Bergkarabachs wurde historisch verknüpft mit dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915. Der aus Bergkarabach stammende ehemalige Präsident Robert Kotscharjan könnte nun die Chance nutzen, um Paschinjan zu stürzen. Am Nachmittag kam es in Armeniens Hauptstadt Jerewan bereits zu ersten Protesten gegen Paschinjan.
Mit dem ehemaligen Präsidenten Kotscharjan, der mit Kreml-Herrscher Wladimir Putin befreundet ist, gelangt man zur unrühmlichen Rolle, die Russland in dem Konflikt spielt: Traditionell war Armenien engster Verbündeter Russlands im Südkaukasus, Moskau galt seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Schutzmacht der Armenier gegen die Türken. In Armenien selbst ist das russische Militär mit etwa 3500 Soldaten präsent, über die “Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit” (OVKS) sind Russland und Armenien sogar in einem gemeinsamen Militärbündnis. Den Waffenstillstand 2020 vermittelte Moskau und stationierte zu dessen Überwachung Truppen – offiziell 2000 Mann – in Bergkarabach.
Nun müssen die Armenier aber erfahren, dass die ehemalige Schutzmacht Aserbaidschans Offensive passiv zuschaut. Moskaus Kalkül könnte darin bestehen, Paschinjans Sturz zu bewirken und durch eine prorussische Regierung seinen Einfluss in Armenien wieder herzustellen.
Zugleich zeigt der Angriff Aliews ungeachtet der russischen Truppenpräsenz aber auch, dass Moskau in dieser Region deutlich an Einfluss verloren hat.
Dieser nahm über die letzten Jahre unter Paschinjan auch ab, weil Europa seine Bemühungen um Armenien verstärkte: Die EU, allen voran Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Ratspräsident Charles Michel, bemühten sich intensiv um eine friedliche Lösung des Konflikts um Bergkarabach.
Die EU braucht das Gas
Für den 5. Oktober war sogar ein Treffen zwischen Aliew und Paschinjan mit Kanzler Olaf Scholz, Macron und Michel in Granada geplant. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Gipfels tendiert nun allerdings gegen Null. Neben der eigenen militärischen Stärke ist ein wichtiger Grund dafür, dass der aserbaidschanische Präsident Aliew anstatt von Verhandlungen den Weg des Krieges gewählt hat, seine Überzeugung, dass er von der EU außer Worten der Besorgnis keine Sanktionen zu erwarten hat: Denn es ist nur 14 Monate her, da zeigte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen freundlich lächelnd in Baku neben Ilham Aliew, hinter den beiden die Flaggen der EU und Aserbaidschans. Um sich von russischem Gas unabhängiger zu machen, hatte von der Leyen da gerade ein Abkommen unterzeichnet, das die Gasexporte in die EU über die nächsten fünf Jahre verdoppeln soll. In diesem Moment wusste Aliew, dass er in Bezug auf Bergkarabach weitgehend freie Hand haben würde.