Wie weit darf der Staat zur Sicherheit seiner Bürger in dessen Freiheitsrechte eingreifen?
Was für den Schutz der Bürger erforderlich ist, kann nicht ein für alle Mal vorentschieden werden. Wenn sich neuartige Bedrohungen - etwa durch den internationalen Terrorismus - ergeben, muss der Staat über die Instrumente verfügen können, die geeignet sind, der Gefahr wirkungsvoll zu begegnen. Diese müssen angemessen sein und die Grenze des Zumutbaren nicht überschreiten.
Was heißt das konkret, "die Grenze des Zumutbaren" darf nicht überschritten werden?
Die Aufgabe des Staates ist es, einer Gefahr für seine Bürger nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit den erforderlichen und angemessenen Mitteln zu begegnen. Der Bürger muss dabei aber sicher sein können, dass zur Abwehr dieser Gefahr der eventuelle Eingriff in seine Freiheitsrechte unverzichtbar ist. Was zu tun ist, darüber kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden.
Vorratsdatenspeicherung, Videoüberwachungen, Online-Durchsuchungen am Computer oder der Einsatz der Bundeswehr im Inneren sind umstritten …
Das sind Grenzfälle. Das geltende Verfassungsrecht erlaubt den Einsatz der Bundeswehr nur für Zwecke der äußeren Verteidigung. Ein Einsatz im Inneren bedarf einer Änderung des Grundgesetzes und damit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Auch eine Vorratsdatenspeicherung ist nach heutiger Verfassungslage und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zulässig.
Sind die Notstandsgesetze ein gelungenes Beispiel, um den Spagat zwischen Sicherheit und Freiheit der Bürger zu leisten?
Die Notstandsverfassung galt den Bedrohungen im Kalten Krieg, die das Gemeinwesen in der Bundesrepublik vor allem durch einen Angriff von außen, oder durch einen Bürgerkrieg gefährdete. Dabei wurden die Freiheitsrechte der Bürger geschützt, soweit dies unter den Umständen einer extremen Gefahrenlage überhaupt möglich erschien. Für die Bewältigung heute bestehender Gefährdungen kann sie ein Beispiel sein. Allerdings erfordert die heutige Gefahrenlage andere Antworten. Der Terror der RAF war keine Gefahr für die innere Sicherheit im Sinne der Notstandsverfassung. Dass gleiche gilt für die heute bestehende terroristische Bedrohung. Wir haben es mit Gefahren zu tun, die im Rahmen der normalen Verfassung zu bewältigen sind.
Warum hat die Erarbeitung der Notstandsgesetze damals zehn Jahre lang gedauert?
Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Notstand nicht die "Stunde der Exekutive" ist und das Parlament die wesentlichen Entscheidungen zu treffen hat. In der Bevölkerung musste lang und intensiv um Verständnis für eine Regelung geworben werden. Viele Widerstände bei den Gewerkschaften, der parlamentarischen und der außerparlamentarischen Opposition beruhten auf einer unzureichenden Kenntnis der vorgeschlagenen Maßnahmen. Und die Notwendigkeit einer breiten Mehrheit im Bundestag erforderte Kompromisse, die in einem Notstandsfall tragfähig sein mussten. Das ist nach meiner Beurteilung gelungen, aber es war eine sehr mühsame Arbeit, die ihre Zeit brauchte.

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Worin unterschieden sich die verschiedenen Notstandsgesetzentwürfe und was führte zu den Veränderungen?
Zunächst glaubte man, dass in einem Notstandsfall alle wesentlichen Befugnisse auf Regierung und Verwaltung übergehen sollten. Am Ende eines langen Weges stand die Erkenntnis, dass die Bewältigung einer außergewöhnlichen Situation in den Händen der gewählten Volksvertretung oder, wenn diese nicht mehr zusammentreten konnte, eines kleineren, aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates zusammengesetzten Gremiums liegen sollte. Das war der Gemeinsame Ausschusses. Diese Lösung fand eine breite parlamentarische Zustimmung und auch außerhalb des Parlaments, etwa bei den Gewerkschaften, ein größeres Maß an Zustimmung oder wenigstens Verständnis.
Zur Person
Ernst Benda, 1925 in Berlin geboren, ist ein deutscher Jurist und Politiker (CDU). Er war 1968/69 Bundesinnenminister und von 1971 bis 1983 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Als Innenminister hatte er erstmals Überwachungsmaßnahmen nach dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses" angeordnet und wurde deshalb scharf von der Außerparlamentarischen Opposition angegriffen. Benda ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
Wie haben Sie die Proteste aus der Bevölkerung wahrgenommen?
Es gab intelligente Gesprächspartner, mit denen man Argumente austauschen konnte, und es gab andere, die offenbar keine Ahnung hatten, worum es ging. Die Unkenntnis über die vorgeschlagenen Notstandsregelungen war doch recht groß. Ich habe trotzdem immer versucht, mir Gegenargumente anzuhören und sie dann auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Wenn mir allerdings Leute gegenüberstehen, die nur mit skandierenden Sprechchören oder Trillerpfeifen etwas zum Ausdruck bringen wollen, aber kein einziges Argument liefern, dann kann ich mich mit ihnen nicht auseinandersetzen. Das stört mich.
Auch Sie standen im Zentrum der Demonstrationen…
Ja, ich war häufig Gegenstand von Angriffen. Die Leute riefen beispielsweise "Benda, wir kommen!". Das gehört aber dazu, wenn man eine bestimmte Meinung repräsentiert.
Hatten Sie manchmal Angst? Immerhin kam es damals auch immer wieder zu gewaltsamen Protesten.
Nein, ich hatte keine Angst. Damals waren wir gewohnt, ohne Polizeischutz überall hinzugehen. Das waren ganz andere Verhältnisse. Das Gefühl eines Politikers, dass er persönlich von der Bevölkerung abgeschirmt und geschützt werden muss, das ist eine neuere Erfindung.
Wie unterscheidet sich denn die gesellschaftliche und politische Situation damals von heute?
Wir leben in einer gefestigten Demokratie, in der jeder seine Meinung sagen kann. Damals war man da noch vorsichtiger, weil man Erinnerungen an schlimme Zeiten hatte. Gleichzeitig erwarten die Bürger heute vielleicht auch zu viel vom Staat. Im Bewusstsein der Menschen ist die Bundesrepublik Deutschland einer der sichersten Staaten der Welt. Unser Staat kann allerdings die soziale Sicherheit seiner Bürger, die mehr denn je gefährdet ist, nicht mehr garantieren. Daran waren die Menschen aber gewöhnt. Hieraus ergeben sich Ängste, denen gegenüber die Sorge um die innere Sicherheit an Bedeutung abgenommen hat.
Dennoch werden in der heutigen Debatte um die innere Sicherheit oft die gleichen Ängste von damals geäußert…
Die Ängste der Menschen sind verständlich. Der Bürger, der sich ohne sein Zutun einer extremen Gefahr ausgesetzt sieht, erwartet vom Staat zum Schutz seiner Sicherheit Hilfe. Zugleich sieht er, dass auch vom Staat Gefahr ausgeht, weil dieser, um ihn zu schützen, seine Freiheit einschränkt. Diese Grundangst wird durch das Gefühl, in seiner äußeren und sozialen Existenz nicht nur durch den Staat, sondern durch nicht greifbare, aber real vorhandene Kräfte - Stichwort Globalisierung - gefährdet zu werden, eher noch verstärkt.
Ist denn der Staat gegen heutige Bedrohung ausreichend aufgestellt?
Das ist schwer zu sagen. Die staatlichen Instrumente, etwa Polizei oder Verfassungsschutz, funktionieren bei uns ganz gut. In anderen Ländern ist das schlechter. Doch gerade beim Terrorismus mussten wir erst viel lernen. Wenn Leute heute bereit sind, sich einen Sprengstoffgürtel umzulegen, um sich in einer Menschenmenge in die Luft zu sprengen, dann ist das eine völlig neue Situation. Früher sind wir davon ausgegangen, dass der einzelne Straftäter nur nicht erwischt werden will und nicht freiwillig auch noch sein Leben opfert. Heute ist das aber so. Wenn heute jemand bereit ist, sogar zu sterben, dann wirkt die Drohung mit der Polizei oder dem Strafgesetzbuch nicht mehr. Darauf brauchen wir neue Antworten.
Welche könnten das sein?
Dazu zählt die Videoüberwachung und derartige Dinge. Das Verfassungsgericht muss dabei aber prüfen, ob eine solche Maßnahme wirklich notwendig ist und geeignet, um der Gefahr zu begegnen. Pauschale Antworten können darauf nicht gegeben werden.
Die Notstandsgesetze
Heute vor 40 Jahren traten die Notstandsgesetze in Kraft. Die Gesetze führten zu massiven Protesten der außerparlamentarischen Opposition. Die Notstandsgesetze änderten das Grundgesetz zum 17. Mal und fügten eine Notstandsverfassung ein, welche die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen (Naturkatastrophe, Aufstand, Krieg) sichern soll. Für die West-Alliierten waren sie eine Bedingung, um die vollständigen Souveränität an die damalige Bundesrepublik zurückzugeben.
Müssen wir uns heutzutage einfach daran gewöhnen, mit einem ständigen Gefühl der Bedrohung zu leben?
Ja, was die terroristische Gefahr angeht vor allem mit einer Bedrohung, deren Ausmaß und Aktualität wir nicht kennen. Wann, wie und wo eine Gefahr konkret wird, gehört heute zu den Fragen, die am schwierigsten zu beantworten sind. Der Staat muss ständig überprüfen, ob seine Instrumente zur Gefahrenabwehr ausreichen. Notfalls muss man korrigieren.
Verteidigungsminister Franz Josef Jung sprach einmal von einem übergesetzlichen Notstand, in dem er bereit sei, einem Piloten der Bundeswehr den Befehl zum Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeuges zu erteilen. Wie beurteilen Sie das? Kann und darf der Pilot der Bundeswehr einen derartigen Befehl verweigern?
Das in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung beschlossene Luftsicherheitsgesetz enthielt eine entsprechende Regelung. Das Bundesverfassungsgericht hat dies für verfassungswidrig erklärt: Es verstoße gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde. Denn das Leben Unschuldiger darf nicht vom Staat bewusst beendet werden, selbst wenn dies in der Absicht geschehe, das Leben anderer zu schützen.
Das heißt im Falle einer durch Terroristen entführten Passagiermaschine …
Was selbst aufgrund eines Gesetzes von Verfassungs wegen unzulässig ist, kann erst recht nicht ohne Rechtsgrundlage erlaubt sein. Auch kann ein "übergesetzlicher Notstand" - der mit der Notstandsverfassung nichts zu tun hat - niemals allgemein von vornherein, sondern nur im Einzelfall unter Abwägung aller Umstände festgestellt werden. Er bezeichnet eine Situation, in der in der Absicht, ein höherwertiges Rechtsgut zu schützen, es ohne Rechtsgrundlage zulässig ist, ein geringerwertiges Rechtsgut zu opfern. Hiervon kann bei dem Abschuss eines von unschuldigen Passagieren besetzten Flugzeuges keine Rede sein. Ein Pilot, der einen Befehl zu einem rechtswidrigen Handeln erhält, darf, ja muss die Ausführung dieses Befehls verweigern. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Befehl für einen Soldaten völlig unzumutbar wäre.