Die beiden Männer, die sich 16 Jahre als politische Partner und einige Jahre als Freunde fürs Leben betrachtet hatten, treffen sich zu ihrem letzten Gespräch am Dienstag, 18. Januar 2000, 8.30 Uhr im Büro von Helmut Kohl. Da beide später ihre Begegnung ausführlich beschreiben, gehört sie zu jenen seltenen persönlichen Konfrontationen, deren dramatischer Ablauf detailliert bekannt ist, obwohl es weder Augen- oder gar Ohrenzeugen gibt.
Schäuble bricht niedergeschlagen zu der Verabredung mit Kohl auf. Als er sich am Dienstagmorgen im Hotel von seiner Frau verabschiedet, sagt er zu ihr, er wolle Kohl dafür gewinnen, mit einem öffentlich nachvollziehbaren Schritt der Partei einen Weg aus der Krise zu eröffnen. Gelinge dies nicht, werde er zurücktreten. Was mit dem "Schritt" gemeint ist, ist klar: Kohl müsse die Namen der Spender unverzüglich nennen.
Kohl empfängt ihn, wie es Schäuble empfindet, "eher frohgemut". Auf Schäubles Aufforderung, endlich die Spender zu nennen und sein Wissen wahrheitsgemäß und vollständig zu offenbaren, reagiert Kohl mit der grinsend vorgetragenen Frage: "Trittst du zurück?" Dann setzt er nach: "Was meinst du mit deiner Aufforderung zur wahrheitsgemäßen Aussage?" Danach wird das Gespräch, wie Kohl berichtet, "außerordentlich heftig". Zu seiner Überraschung versteigt sich Schäuble zu der These, in Wahrheit habe Kohl gar keine Spender und könne sie daher auch nicht nennen. Als Kohl zurückfragt, woher dann das Geld komme, wiederholt Schäuble den Satz, er glaube nicht, dass irgendjemand Kohl Spenden persönlich überreicht habe.
"Keine Minute mehr"
Kohl antwortet von oben herab, Schäuble habe doch persönlich auch eine Spende von 100.000 Mark von einem Mann bekommen, den er zuvor nicht persönlich gekannt habe. Wieso solle es ihm nicht möglich sein, Spenden von Freunden zu erhalten. Die ganze Affäre sei doch keineswegs so schlimm, plaudert er weiter. Für sein Schweigen habe ein Großteil der Bevölkerung Verständnis. Diese Sätze, ohne jedes Schuldbewusstsein ausgesprochen, treiben Schäuble zur Weißglut. Wenn Kohl schon nicht die Namen der Spender nennen wolle, dann möge er doch wenigstens sein Mandat niederlegen. Die CDU befinde sich "in einer ihre Existenz bedrohenden Krise". "In höchster Erregung", so behauptet Kohl, habe Schäuble ihn dann noch ein letztes Mal aufgefordert, endlich die Namen der Spender zu nennen. Als Kohl sein Nein wiederholt, sagt Schäuble: "Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Rücktritt zu erklären."
Kohl mahnt: "Das wirst du nicht tun!"
Daraufhin greift Schäuble in die Räder seines Rollstuhls, dreht ihn mit einem rüden Ruck herum und verlässt Kohls Büro mit dem Satz: "Ich habe in meinem Leben schon zu viel meiner knapp bemessenen Lebenszeit mit dir verbracht. Es wird keine Minute mehr geben." Und ruft von der Tür dem Altkanzler zu: "Dieses Büro werde ich in meinem Leben nicht wieder betreten." Eine Männerfreundschaft, die unzerbrechlich schien, ist zu Ende.
"Alea jacta est"
Im Nachhinein bewertet Kohl diese halbe Stunde als eine "der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens". Schäuble sieht es nüchterner. Der Mann, der vor ihm saß, wirkte auf ihn wie ein selbstgerechter Pate, dem geltendes Gesetz schnurz, die Not des Nachfolgers piepe und die Zukunft der CDU egal war. Bei der Rückkehr in sein Büro sagt Schäuble zu seinem Freund Hans-Peter Repnik nur lakonisch: "Alea iacta est."
Nach dem Gespräch mit Repnik lässt sich Schäuble zu den Sitzungen der CDU-Führungsgremien bringen, wo er auf eine niedergeschlagene Generalsekretärin Angela Merkel trifft. Im Präsidium berichtet er über sein Gespräch mit Kohl und seinen Entschluss zum Rücktritt. Die Kollegen widersprechen und sagen, dann müsse das ganze Präsidium zurücktreten. Daraufhin bittet Schäuble, ihn für ein paar Minuten zu entschuldigen.
Als er zurückkehrt, trägt ihm das Präsidium eine Entschließung vor, wonach Kohl noch einmal gebeten wird, die Spendernamen zu nennen und zugleich aufgefordert wird, den CDU-Ehrenvorsitz ruhen zu lassen, solange er die gewünschte Aufklärung nicht leiste. Nach der Verabschiedung dieser Entschließung erklärt sich Schäuble bereit, weiter als CDU-Chef zu amtieren.
Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Kohl Schäuble mit einer "optischen Lüge" überrumpelte - und wie der Pfälzer die Kanzlerkandidatur 1998 an sich riss
"Manchmal wie ein Aussätziger"
Kohl erklärt daraufhin seinen Rücktritt vom Ehrenvorsitz. Später liefert er dazu eine hoch emotionale Erklärung: Sein Verzicht habe nichts mit dem Machtkampf mit Schäuble zu tun gehabt. Aber er wolle nicht verschweigen, dass ihn die Trennung vom Ehrenvorsitz tief getroffen habe. "Nicht die formale Trennung, sondern die Trennung meiner emotionalen Beziehungen zur Partei." Die CDU sei ein Teil seines Lebens. "Ich kann nicht 50 Jahre meines Lebens wie ein schmutziges Hemd ablegen." Nach dem Bruch mit Wolfgang Schäuble komme er sich "manchmal vor wie ein Aussätziger, den man wegen seiner gefährlichen, ansteckenden Krankheiten meidet".
Aus Kohls Sicht haben einige innerparteiliche Gegner die Gelegenheit benutzt, alte Rechnungen zu begleichen. Da sei Heiner Geißler, der "seinen Hass" ihm gegenüber wohl mit ins Grab nehme. Gleiches gelte für Kurt Biedenkopf, der es genieße, endlich auf ihn herabblicken zu können. Jetzt hätten etliche Persönlichkeiten in der CDU, die ohne ihn nicht politisch Karriere gemacht hätten, ihren Rachedurst stillen können.
Wolfgang Schäuble hat für Kohl am Ende nur Verachtung übrig. "Er war eine wichtige Beziehung für mich, für ihn war ich das nicht." Auch die engsten Freunde Schäubles, denen er, was er nur selten tut, in jenen Tagen einen Blick in seine innersten Gefühle erlaubte, glauben nicht, dass sich die beiden zu ihren Lebzeiten noch einmal die Hand geben werden. Kohl versucht es einmal. Als im September 2000 im Berliner Schiller-Theater der Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrags gefeiert wird, der den Weg zur Wiedervereinigung geöffnet hatte, sitzen Kohl und Schäuble nur wenige Meter voneinander entfernt, Schäuble wegen seines Rollstuhls natürlich am Rand. Kohl erhebt sich, geht zu ihm hinüber und streckt ihm die Hand hin. Schäuble dreht den Kopf zur Seite.
"Diener der Republik"
Die Unaufrichtigkeit Kohls hatte sich bei Schäuble wohl schon durch ein Foto eingeprägt, das drei Jahre zuvor entstanden war und die heile Welt zwischen den beiden dokumentieren sollte. Schäuble hatte im Januar 1997 im stern erstmals offen seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft nach Kohl angemeldet. "Ein Krüppel als Kanzler?", hatte er gefragt und selbst geantwortet: "Ja, die Frage muss man stellen." Und er fügte hinzu, die Kanzlerschaft wäre eine "Versuchung, der ich wahrscheinlich nicht widerstehen könnte".
Kohl reagiert auf diese Ankündigung auf seine Weise - mit einer optischen Lüge. Er drückt in seinen ohnehin vollen Terminkalender blitzschnell noch einen Fototermin für den stern, den er wie alle "diese Hamburger Magazine" angeblich gar nicht liest. Doch an diesem Tag ist er zu allem bereit, um sich und Schäuble vor der Kamera zu verbrüdern. Als der stern-Fotograf Konrad R. Müller, den Kohl besonders schätzt, seufzt, es sei ziemlich dunkel im Arbeitszimmer des Kanzlers, lässt er seinen Ledersessel quer durchs Zimmer neben Schäubles Rollstuhl tragen und die Vorhänge aufziehen. "Den Wolfgang müssen wir ins beste Licht rücken", scherzt er. So entsteht das gewünschte Foto "Vater mit treuem Sohn", das nur eines dokumentieren soll: Kohls Machtanspruch über den Fraktionschef, der ihn mit seinem Selbstbewusstsein genervt hatte. Und der es gewagt hatte, Sätze zu sagen wie: "Ich fühle mich überhaupt nicht als Diener des Kanzlers, sondern als Diener der Republik."
Dass Kohl nur einen Tag nach dem Fototermin bei der entscheidenden Frage erneut kneift, bleibt Schäuble natürlich nicht verborgen. Auf die Frage, ob er 1998 wieder als Kanzlerkandidat antrete, antwortet er ausweichend: "Kommt Zeit, kommt Rat." Zur Wahrheit bekennt sich der Kanzler wenig später: Am 3. April 1997 verkündet er im Fernsehen, bei der Bundestagswahl 1998 wieder ins Rennen zu gehen. Das habe er sich "sehr genau und sorgfältig" überlegt. Schäuble zuvor zu informieren, hatte er nicht für nötig gehalten.
"Schäuble wird einmal Kanzler"
Wolfgang Schäuble durfte sich von dem Mann getäuscht fühlen, über den er mehr als einmal gesagt hatte: "Helmut Kohl weiß, dass ich ihn nicht bescheiße." Umgekehrt war das, wie er lernen musste, durchaus der Fall. Denn schon 1994 hatte Kohl Schäuble zugesagt, er werde ihm zur Halbzeit der Legislaturperiode das Kanzleramt übergeben. Auch sein Satz, er wünsche sich, dass "Wolfgang Schäuble einmal Kanzler wird", war nie aufrichtig gemeint. Nur hat Schäuble zu spät realisiert, dass dieser Mann für ihn nie etwas anderes vorgesehen hatte, als die Rolle des ewigen Kronprinzen und loyalen Helfers beim Machterhalt.