Tapfer spricht Philipp Mißfelder von "ausgewogenen Reaktionen". Na ja. Wer bei stern.de die hoch emotionalen Kommentare liest, mit denen sein Satz "Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie" bedacht wird, kann ihm nur bedingt zustimmen. Als ein "Herr Mistfelder" wird da der Vorsitzende der Jungen Union (JU) bezeichnet. Oder als CDU-Politiker angegriffen, der mit "Dumm-Dumm-Geschossen" Politik mache, obwohl er doch im Präsidium der Bundes-CDU ganz oben sitze. Selbst der CDU-Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann, mit dem sich Mißfelder freundschaftlich duzt, ging sofort auf Distanz.
Aber die Proteste aus den CDU-Reihen gegen Mißfelder sind nicht sehr glaubwürdig. Nachdem der ehemalige grüne Wirtschaftsexperte Oswald Metzger zu stern.de gesagt hatte, "Sozialhilfeempfänger sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate und Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen", gingen zwar die Grünen eilig auf Distanz zu ihrem ehemaligen Bundestagsabgeordneten. Die CDU aber hat ihn ohne jedes Zögern aufgenommen. Und auf Mißfelders politischer Linie bewegte sich auch schon Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen mit kritischen Bemerkungen zu Hartz IV, ohne dass es zum Proteststurm kam.
Tatsache ist, dass viele in der CDU, intern "bürgerliche Bücklinge" genannt, denken wie Mißfelder, es aber nicht offen zu sagen sich trauen. Man gibt Mißfelder im Prinzip Recht, schweigt aber. Sie orientieren sich an Angela Merkel, der harte sachliche Positionen ohnehin nie gefallen und die auch in diesem Fall schweigt, wie immer. Mißfelder dagegen fordert seit langem, die CDU müsse wieder klare Standpunkte beziehen und nicht nur Konsensdebatten führen. Wenn er, wie auf dem letzten CDU-Bundesparteitag geschehen, sich zum Bier mit dem bei Merkel in Ungnade gefallenen Friedrich Merz setzt, wird dies sogleich mit ärgerlichen Blicken bedacht. Er nennt sich selbst einen Konservativen und gehörte zu dem Quartett jüngerer Unionspolitiker, die vor einigen Monaten die Kanzlerin in einem Grundsatzpapier zu mehr Klarheit mahnten: Die CDU müsse wieder an ihre Wurzeln denken und sich zu einem "modernen bürgerlichen Konservatismus" bekennen. Hinzu kommt, dass die nordrhein-westfälische CDU derzeit zu Recht als "Intrigantenstadl" bezeichnet wird. Mal wird eine CDU-interne Umfrage durchgestochen, laut der es der SPD zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gelungen ist mit 31 Prozent vor der CDU (28 Prozent) zu liegen; die Linkspartei kam dabei auf stattliche 16 Prozent. Das wird von vielen als parteiinterner Rachefeldzug gegen CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers interpretiert. Denn der hat seinen in der Landes-CDU mächtigen Verkehrsminister Oliver Wittke gefeuert, weil der mit innerorts 105 Stundenkilometern geblitzt worden war. Plötzlich wurde im derzeitigen Machtkampf innerhalb der NRW-CDU über Mißfelder als "Schatten-Verkehrsminister" spekuliert, ein Job der ihn überhaupt nicht interessierte. Um Rüttgers "anzuschießen", so die Gerüchteküche, hätten die "Ruhr-Nachrichten" den schon ein paar Tage alten Hartz-IV-Satz von Mißfelder, der bei der ersten Veröffentlichung zunächst niemanden aufgeregt hatte, ein zweites Mal gedruckt und an die Nachrichtenagenturen geliefert.
Keiner kommt auffälliger daher, keiner schneller und keiner braucht mehr Sprit - als Berlins neuer Finanzsenator Ulrich Nußbaum. Der Hüter der leeren Stadtkassen fährt einen Bentley Continental GTC, die Edelkarosse, ein Cabrio, ist 314 Stundenkilometer schnell, säuft im Stadtverkehr 25 Liter, hat 560 PS und kostet neu 190.000 Euro. Bemerkenswerte Hoffnungen begleiten den Nachfolger des bisherigen Finanzsenators Thilo Sarrazin, der die Bürger regelmäßig mit rigorosen Botschaften erschreckt hat. Etwa der These, dass sich jeder Hartz-IV-Empfänger von vier Euro am Tag gesund und ausgewogen ernähren könne. "Das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern ist Untergewicht." Auch politisch kannte er keine Scheu. Die Linkspartei (früher PDS), immerhin Koalitionspartner der Berliner SPD, ärgerte der SPD-Mann Sarrazin mit dem Spruch: "Dumm, dümmer, PDS."
Interessant ist, dass der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit früher gerne den Stadtstaat Bremen wegen seiner hohen Schulden herunter geputzt hat, jetzt aber mit Nußbaum einen Mann an die Spree holte, der auch schon mal Finanzsenator in Bremen war. Privat war er allerdings geschäftlich sehr erfolgreich und brachte es als Fisch-Großhändler zum Millionär. Was er in Berlin politisch vorrangig gestalten will, hat er bisher verborgen. Berlins Autofahrer allerdings sehen ihm hoffnungsvoll entgegen: Mit seinem Privatauto werde er die unendlichen Schlaglöcher auf den Straßen der Hauptstadt ganz bestimmt nicht dulden. Er würde dann ja fortwährend aufsitzen, nicht nur automobilistisch, auch politisch. Und Bremens Altbürgermeister Henning Scherf, dem Nußbaum als parteiloser Finanzsenator zugearbeitet hat, prophezeit den Berlinern: "Ihr werdet Euch noch wundern."
Auch am heutigen Rosenmontag konferierte das SPD-Präsidium über die politische Lage. Allerdings im Wege einer Telefonschaltkonferenz. Eine Pressekonferenz im Anschluss daran, wie es normalerweise üblich ist, fand nicht statt. Die SPD-Pressestelle weiß vermutlich genau weshalb. Sollte sie denn mitteilen, dass die SPD-Bosse sich angeheitert "Narri, Narro, Alaaf" und "Helau" zugerufen haben – trotz Wirtschaftskrise und Arbeitplatzverlusten?