Sicher, Seit' an Seit', in demonstrativer Einigkeit, sind Angela Merkel und Jürgen Rüttgers am Dienstag in das Auditorium des Berliner Congress Centrums einmarschiert. Aber nein, geschenkt haben sie sich dennoch nichts, die Kanzlerin und die neue, selbst erkorene Galionsfigur des Sozialflügels der CDU. An Deutlichkeit gegenüber dem Widerspenstigen ließ es Parteichefin Merkel jedenfalls nicht missen. "Manche haben," sagte sie auf dem Grundsatz-Kongress der Christdemokraten, "auch die deutsche Einheit als Lebenslüge bezeichnet. Aber sie ist gekommen."
Wumms. Das saß. Lebenslügen. Da war es wieder. Hatte doch Rüttgers die Partei erst vor wenigen Wochen per Interview im stern dazu aufgefordert, sich von wirtschaftspolitischen "Lebenslügen" zu trennen. Von der Vorstellung etwa, geringere Lohnnebenkosten würden Jobs schaffen. Wehe, wehe, lieber Jürgen, lautete nun die kaum verklausulierte Botschaft der Kanzlerin, beteilige dich, aber lehne dich ja nicht zu weit aus dem Fenster.
Rüttgers freilich ließ sich von der Chefin nicht schrecken. Im Gegenteil. Auch an diesem Dienstag hielt er beharrlich an seiner Forderung fest, die Union müsse sich auf das Soziale zurück besinnen, sie müsse sich vom Marktliberalismus à la FDP verabschieden. Am Morgen hatte er das im Frühstücksfernsehen verdeutlicht, am Nachmittag setzte er auf dem Kongress nach: "Wir dürfen nicht alle Lebensbereiche ökonomisieren", sagte Rüttgers. "Es ist wichtig, sich von der Staatsgläubigkeit der SPD abzusetzen. Aber es ist auch wichtig, von der Marktgläubigkeit der FDP abzurücken."
Wie bei den Grünen vor 20 Jahren
Bei der Union geht es derzeit zu wie auf einem Grünen-Parteitag vor 20 Jahren, nur ohne Langhaarige und ohne Joschka Fischer. Die Partei streitet. Öffentlich. Kontrovers. Spannend. Wie die SPD auch steckt die CDU mitten in einem elementaren Selbstfindungsprozess. Wie kann man nur, wie soll man sich nur positionieren, wenn die alten Antworten einfach nicht mehr zu passen scheinen auf die neuen Fragen, auf die neuen Probleme, auf die neuen Akteure und Einflüsse? Welche Richtung stimmt? Man ist unsicher, schwankt zwischen den Ideen der Liberalen und den Mahnungen des sozialen Flügels, zwischen den Merzens und den Rüttgers', von der Basis bis hinauf zur Parteiführung.
Man ist vorgewarnt. 2003, auf dem Leipziger Parteitag, hatte Chefin Merkel ein liberales Programm durchgesetzt, hatte auf den Begriff der Freiheit gesetzt - und war damit bei den Bundestagswahlen 2005 brutal eingebrochen. Die Partei habe es an Herzenswärme vermissen lassen, geißelte man sich danach. Das könne es nicht sein, man müsse es anders versuchen. Mehr auf Gerechtigkeit setzen, auf Solidarität, und dabei, um Gottes Willen, das Christliche nicht vergessen.
CDU-Chefin hält sich im Richtungsstreit bedeckt
Der Kanzlerin dürfte das Rüttgersche Vorpreschen in Stil und Wortwahl zuwider sein, im Streit zwischen dem liberalen und dem sozialen Flügel der Partei hält sie sich merklich zurück. Auch ihre Grundsatzrede vor den rund 970 Teilnehmern im BCC am Alexanderplatz war typisch Merkel-Sprech: Klug, bisweilen schonungslos in der Analyse, aber vorsichtig in der Festlegung. Merkel berief sich einerseits auf die Tradition der CDU als Volkspartei, die soziale Gräben überwinde und überbrücke. Die CDU habe sich behauptet, weil "es ihr immer wieder möglich war, Maß und Mitte zu finden", sagte sie. Jenen, die ihr vorwerfen, sich zu sehr den vermeintlich liberalen Ideen des Leipziger Parteitags verschrieben zu haben, hielt sie ein flammendes Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft entgegen: "Das war und ist mehr als eine Wirtschaftsordnung", sagte sie. "Das ist ein Sozialmodell." Und: "Die Soziale Marktwirtschaft hat gezeigt, dass sie eine gerechte Ordnung ist, eine solidarische Ordnung."
Merkel sagte, zwischen den Kernbegriffen, die das Wesen der CDU ausmachten, zwischen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität gebe es keine Hierarchie. Jedes Konzept sei unauflöslich mit dem anderen verbunden. Um ihren Glauben an die Bedeutung der Menschenwürde zu unterstreichen, zitierte Merkel aus einer Grundsatz-Rede Konrad Adenauers aus dem Jahr 1946. In dieser hatte Adenauer den Wert der Würde jedes einzelnen Menschen hervorgehoben - vor allem gegenüber staatlicher Macht.
"Solche Beschlüsse geben Orientierung"
Andererseits machte die Kanzlerin deutlich, dass sie keineswegs willens ist, die Kernideen von Leipzig flugs über Bord zu werfen. "Solche Beschlüsse geben Orientierung", sagte sie. Auch bedeute Freiheit immer, dass man in die Lage versetzt werde, etwas zu tun, nicht immer, vor etwas geschützt zu werden. "Veränderung ist die notwendige Antwort auf eine sich verändernde Welt", sagte sie und zitierte zum besseren Verständnis den verstorbenen US-Präsidenten Ronald Reagan: "Ich glaube nicht an ein Schicksal, das uns ereilt, wenn wir etwas tun", soll Reagan gesagt haben. "Ich glaube an ein Schicksal, das uns ereilt, wenn wir etwas nicht tun." Das sei Freiheit à la CDU, ließ Merkel durchblicken.

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Viel Beifall erhielt die Kanzlerin nicht. Ein Teilnehmer versuchte kurz, klatschend aufzustehen, aber irgendwie wollten ihm die anderen nicht folgen. Standing Ovations waren Fehlanzeige. Stattdessen gab es eine Minute lang braves Geklatsche im Sitzen, eine halbe Minute rhythmischen Beifall. Das Minimum. Mehr war das nicht.
Kauder passt auf Rüttgers auf
Nach der Rede der Kanzlerin teilten sich die Delegierten in verschiedenen Podien auf. Auf dem Podium, das sich mit der Frage der Identität christlicher Demokraten beschäftigte, hatte die Kongress-Regie kurzerhand Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust durch den Düsseldorfer Rüttgers ersetzt. Ihm zur Seite gesetzt wurde unter anderem, gleichsam als partei-interner Aufpasser, Unions-Fraktionschef Volker Kauder.
Rüttgers blieb auf Kurs, wiederholte seine Kernargumente, betonte die Bedeutung von Gerechtigkeit und Solidarität. Konkret wehrte er sich gegen Sonntagsarbeit, kritisierte die Undurchschaubarkeit von Hartz IV und forderte nachvollziehbare Prinzipien einer sozialen Ordnungspolitik. Kauder indes, philosophisch nicht ganz so gewieft wie Rüttgers, bemühte sich, den Eindruck zu verwischen, der widerspenstige Ministerpräsident erfinde das Rad der CDU völlig neu. Im Prinzip gehöre das doch ohnehin alles zum Bestand der CDU, was Rüttgers fordere, so lautete Kauders Botschaft. Die CDU halte in jedem Fall am Begriff der Solidarität fest, sagte er. Von einer Abkehr könne keine Rede sein. "Die Menschen in unserem Land haben Angst davor, dass wir den Freiheitsbegriff so verstehen, dass wir sie alleine lassen", sagte der Merkel-Vertraute Kauder. "Das war aber nie Teil der christdemokratischen Tradition. Der Staat muss weiterhin die Existenz absichern." Er gebe Hilfe zur Selbsthilfe.
Adenauer, die zweite
Aber Jürgen Rüttgers konnte Kauder an diesem Tag mit seiner gemäßigten Haltung nicht beikommen. Irgendwann gestattete sich Rüttgers während der Diskussion einen kleinen Seitenhieb gegen die Kanzlerin. Diese habe zwar einen Satz aus der Rede Adenauers aus dem Jahr 1946 zitiert, sagte der Mann aus Düsseldorf süffisant. Aber sie habe die nachfolgenden Sätze aus der Rede weggelassen. Darin nämlich habe Adenauer vor einer materialistischen Weltanschauung, vor einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche gewarnt, so Rüttgers. Und für die CDU des Jahres 2006 gelte dieses Credo ebenso wie für die CDU des Jahres 1946.
Die Kanzlerin, übrigens, betrat kurz nach diesen Äußerungen Rüttgers' wieder den Saal. Sie setzte sich in die erste Reihe und hörte ein paar Minuten zu. Der Moderator scherzte, nun könne man den Saal ja auch wieder in Eintracht verlassen, Seit' and Seit', trotz aller Richtungsdebatten.