Grüner Bundesminister Cem Özdemir: "Es gibt keinen weniger schlimmen Antisemitismus"

Ein Gastbeitrag von Cem Özdemir
Cem Özdemir 2018 bei einer Demo gegen Antisemitismus
Der Grüne Cem Özdemir, heute Landwirtschaftsminister, 2018 bei einer Demo gegen Antisemitismus
© imago / snapshot
Juden in Deutschland werden bedroht und angegriffen. Bundesminister Cem Özdemir sagt: Der Kampf gegen Antisemitismus braucht das Bündnis aller.

Als ich Schüler war, kam eine Zeitzeugin aus meiner Heimatstadt Bad Urach an unsere Schule. Sie erzählte uns, wie sie während der Zeit des Nationalsozialismus versuchte, anständig zu bleiben. Sie stand damals vor der Entscheidung, in die NSDAP einzutreten oder ihre Arbeit zu verlieren. Sie zog ihre Kinder allein auf und trat trotzdem nicht in die Partei ein. Später habe ich sie regelmäßig zu Hause besucht. Auch durch die Gespräche mit ihr habe ich verstanden und verinnerlicht, dass "Nie wieder" ein Teil unserer Identität ist – und sein muss.

Bundeskanzler Scholz hat nach dem Terrorangriff der Hamas bekräftigt, dass wir eine besondere Verantwortung für die Sicherheit und das Existenzrecht Israels haben. Diese Verantwortung beinhaltet auch, dass der Staat und wir als Bürgerinnen und Bürger alles Notwendige tun, um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu gewährleisten. Aber werden wir dieser Verantwortung gerecht? Werden wir ihr auch morgen und übermorgen gerecht werden, wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird?

Seit dem Terrorangriff auf Israel, bei dem Hunderte Menschen, darunter Babys und Kleinkinder, von der Hamas brutal und bestialisch ermordet wurden, hat sich die Situation für jüdische Deutsche massiv verschärft. Haustüren werden mit dem Davidstern beschmiert, Anschläge auf Synagogen verübt, Israelfahnen verbrannt, jüdische Kindergartenkinder und Schüler bleiben zu Hause. Man sollte meinen, dass es auch propalästinensischen Aktivisten in Deutschland gelingen müsste, angesichts des Massakers der Hamas eine klare Grenze zu ziehen. Das Gegenteil ist allzu oft der Fall.

Was aber folgt daraus? Wichtig wäre vor allem eines: Der selektive Blick auf die Realität des Antisemitismus sollte endlich der Vergangenheit angehören. Wenn Antisemitismus von links kommt, heißt es oft, das sei kein Antisemitismus, sondern antikolonialer Befreiungskampf. Es ist verstörend, wie manche Linke gerade angesichts des Terrors der Hamas darin versagen, Menschlichkeit zu zeigen – oder überhaupt anzuerkennen, dass es sich um Terrorismus handelt. Wenn Antisemitismus von Muslimen ausgeht, heißt es, das habe nichts mit dem Islam zu tun, obwohl Studien zeigen, dass dieser unter Muslimen kein Randphänomen ist und die islamischen Verbände nicht ausnahmslos auf dem Boden des Grundgesetzes agieren. Darunter leiden auch Muslime und Verbände, die mit Antisemitismus nichts zu tun haben wollen. Und von rechts wiederum zeigen die Finger allzu schnell nach links oder auf die Muslime.

Die Konservativen in Deutschland thematisieren gern ausschließlich den "eingewanderten Antisemitismus". Dabei sollte gerade ihnen klar sein, dass "Brandmauer" nicht bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit rechtsextremem Antisemitismus damit beendet ist.

Antisemitismus darf keine Normalität sein

Es gibt keinen weniger schlimmen Antisemitismus. Es ist unredlich und der Sicherheit von Juden nicht dienlich, den einen Antisemitismus gegen den anderen auszuspielen – das gilt für politische Akteure und Parteien links wie rechts der Mitte. Wir können uns diese ermüdenden Rituale nicht leisten. Es gibt Herausforderungen, bei denen der Feind außerhalb des demokratischen Spektrums steht und politische Konkurrenten innerhalb des demokratischen Spektrums Verbündete sein sollten. Der Kampf gegen Antisemitismus braucht genau dieses Bündnis – nicht nur als Signal an die politischen Ränder, sondern auch in die Mitte der Gesellschaft, wo antisemitische Einstellungen zwar seltener offen zum Ausdruck kommen, aber dennoch vordringen.

Zugleich – und diese Differenzierung können wir uns nicht ersparen, wenn wir aufrichtig sein wollen – darf es nicht passieren, dass arabischstämmige Menschen in Deutschland in eine Ecke gedrängt werden, in der sie sich wegen ihrer bloßen Herkunft rechtfertigen müssen. Man kann auch auf das Leid der Palästinenser hinweisen oder Israel kritisieren, wie es übrigens viele im demokratischen Israel selbst tun – und zugleich das Existenzrecht Israels unmissverständlich anerkennen oder zwischen der Regierung Israels und Juden unterscheiden.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Wenn wir sagen, dass Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz haben darf, dann müssen wir dem Taten folgen lassen. Unter Juristen ist umstritten, ob es zur Verfolgung antisemitischer Straftaten neuer Gesetze bedarf, ob bestehende präzisiert werden müssen oder ob ihre Anwendung ausreicht. In jedem Fall müssen Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte entsprechend ausgestattet werden. Wenn auf Demonstrationen Parolen in arabischer Sprache skandiert werden, sollten die Sicherheitsbehörden in der Lage sein, diese zu übersetzen und gegebenenfalls strafrechtlich zu verfolgen. Wenn die Grenzen der Meinungsfreiheit zur Volksverhetzung überschritten werden und zu Hass und Gewalt aufgerufen wird, muss dies vor Gericht gebracht und öffentlich gemacht werden. In der Konsequenz des Staates liegt eine Botschaft, die verstanden wird, in der Inkonsequenz eine, die ausgenutzt wird.

"Es kann uns nicht gleichgültig lassen, dass die Sonnenallee zu einer No-go-Area für Menschen geworden ist, die offen als Juden erkennbar sind"

Wenn Neonazis sogenannte "national befreite Zonen" ausgerufen haben, war immer klar: Das ist inakzeptabel, der Staat muss handeln. Es kann uns nicht gleichgültig lassen, dass die Sonnenallee in Berlin-Neukölln de facto zu einer unsicheren, tatsächlichen No-go-Area für Menschen geworden ist, die offen als Juden erkennbar sind. Andersdenkende, Andersgläubige, einfach Menschen, die sich zum Wertekanon dieses Landes bekennen, können sich dort nicht sicher fühlen. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, ob alles, was für uns gegenüber Rechtsextremisten selbstverständlich ist, auch dann gilt, wenn es gegen Menschen mit Migrationsgeschichte angewendet werden muss, sobald die Bedrohung von ihnen ausgeht. Wir müssen uns eingestehen, dass Opfer auch Täter sein können. Offenbar fehlt manchen die Vorstellungskraft, dass dieselbe Person heute wegen ihrer Herkunft keinen Job bekommt – und morgen auf der Straße antisemitische Parolen brüllt. Hier dürfen wir die Augen nicht verschließen. Denn auch hier gilt: In der Konsequenz des Staates liegt eine Botschaft, die verstanden wird, in der Inkonsequenz eine, die ausgenutzt wird.

Das heißt auch, dass nicht das jüdische Kind die Schule wechseln muss, sondern diejenigen, die es drangsalieren und antisemitisch sind. Das muss sich herumsprechen, damit andere Eltern es verstehen. Gleichzeitig gilt: Kein Kind, egal welcher Herkunft, wird als Antisemit geboren, es wird dazu gemacht. Umso wichtiger ist es, dass wir die Erziehung zur Demokratie in unseren Bildungseinrichtungen ernst nehmen und dort unsere Verantwortung für die Sicherheit Israels und den Schutz jüdischen Lebens unmissverständlich deutlich machen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert, Schulen und Pädagogen bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Der Ruf nach mehr Bildung darf nicht zum folgenlosen Ritual werden – es geht um das Wertefundament, auf dem unser Land steht, um die Frage, wer wir sein wollen. Im Idealfall geschieht die Vermittlung dieser Werte gemeinsam mit der Familie, im Ernstfall auch gegen ein Milieu, in dem Antisemitismus und Judenhass zur Normalität geworden sind. Jede Generation muss die Erziehung zur Demokratie neu leisten, um jüdisches Leben in Deutschland zu schützen – auch morgen und übermorgen.

Erschienen in stern 45/23