Wenn Christian Lindner über Landwirtschaft spricht, weiß man vorher nie, welchen Christian Lindner man zu hören bekommt. Geht es um die Bauern, um ihre Anliegen und ihren Protest, hat der FDP-Chef und Finanzminister gleich mehrere Rollen im Repertoire.
Da gibt es den Bauernversteher Christian Lindner, der im Herbst 2019 als Oppositionspolitiker bei einer Demo über falsch gemessene Nitratwerte scherzte und zum Liebling der Landwirte avancierte.
Da gibt es den Bäcker-Enkel Christian Lindner, der als Brotbotschafter auf der Grünen Woche 2020 um jene Bauern warb, die er enttäuscht von CDU und CSU in politischer Heimatlosigkeit wähnte.
Da gibt es den wehrhaften Demokraten Christian Lindner, der die Bauern beim Dreikönigstreffen der FDP kürzlich aufforderte, friedlich zu protestieren und sich nicht instrumentalisieren zu lassen.
Da gibt es den Ordnungspolitiker Christian Lindner, dem Subventionen suspekt sind, auch wenn sie an Landwirte gehen.

Und da gibt es den passionierten Jäger Christian Lindner, der "als Stallbursche meiner eigenen Frau" beim Ausmisten der Pferdebox hilft und den es schmerzt, dass nun auch gegen ihn demonstriert wird.
Zu viele Rollen für einen Christian Lindner? Keinesfalls. Am Montagmittag, bei der Demo der Landwirte vor dem Brandenburger Tor, hat der Finanzminister erklärt, wie die verschiedenen Perspektiven seine Überzeugungen prägen. Und er hat diese Überzeugungen rausgeschrien gegen die Wut Tausender Bauern vor ihm. Dafür muss man ihm dankbar sein. Lindner war offensiv und dialogbereit – ohne sich selbst zu verleugnen.

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Pfiffe und Buhrufe gegen Christian Lindner
Die Demonstranten haben ihn ausgebuht und ausgepfiffen. "Hau ab, hau ab", riefen sie ihm zu. Da halfen auch besänftigende Worte des Bauerpräsidenten wenig. Lindner hat seine Rede durchgezogen. Er ist in alle Rollen geschlüpft, die ihm zur Verfügung stehen. Hat versichert, an seinem Verständnis für die Nöte der Landwirte habe sich seit Herbst 2019 nichts verändert. Hat betont, Landwirtschaft sei keine Branche wie jede andere. Hat sich bedankt für den friedlichen Protest und ein Angebot mitgebracht: weniger Bürokratie, mehr unternehmerische Freiheit.
Er hat erklärt, in welchen Zwängen er sich als Minister sieht: gestiegene Zinsen, hohe Energiepreise, verschlafene Investitionen. Da müsse jeder seinen Beitrag leisten. Die Regierung, so der Vizevizekanzler, habe die Argumente der Bauern doch längst gehört und ihre Politik korrigiert. Es war die stärkste Passage seiner Rede. Weil sie eine Grenze gezogen hat, die Regierungspolitiker ab und an ziehen müssen.
Tausende Fahrzeuge blockieren Berliner Zentrum – Finanzminister Lindner wird ausgebuht

Man darf Lindners Auftritt in dieser Hinsicht als engagierte Verteidigung einer bundesdeutsch-bewährten Kultur des Kompromisses verstehen. Als ein Stoppschild der Anerkennung: Ihr hattet Euren Erfolg im Ausgleich der Interessen, aber mehr ist nicht drin. Schließlich gewinnt im politischen Wettbewerb nicht automatisch, wer die lautesten Trecker-Hupen hinter sich versammelt.
Als Musterbeispiel für eine neue Sensibilität der Ampel-Koalition für die Triggerpunkte gesellschaftlicher Konflikte taugt Lindners Rede jedoch nicht. Eher als Musterbeispiel einer verpassten Chance, Einheit zu stiften.
Ohne Bezug zur Zukunft der Landwirtschaft hat Lindner andere Gruppen aufgezählt, bei denen die Regierung durchgreife oder durchgreifen müsse: Klimaaktivisten, Asylbewerber, Bürgergeld-Empfänger.
Es bleibt ein fader Beigeschmack
Es wirkte wie eine Anbiederung an die niederen Instinkte der vor Lindner versammelten Masse. Nach dem Motto: Schaut her, liebe Bauern, ich weiß ja, was ihr denkt. Natürlich geben wir viel zu viel Geld für Arbeitslose und Asylbewerber aus. Und die echte Bedrohung für unsere Demokratie sind selbstverständlich linksextreme Klimakleber.
Warum spricht man darüber auf einer Bauern-Demo? Warum spricht man als Jäger und Stallbursche nicht vielmehr darüber, wie die klimafreundliche und umweltschonende Jagd und Landwirtschaft von morgen aussehen soll?
Es mag als Leistungsnachweis gedacht gewesen sein gegen die seltsamen "Die Abgehobenen da in Berlin"-Phantasien einiger seiner Vorredner. Nach dem Motto: Schaut her, liebe Bauern, was wir als Regierung tatsächlich tun und wer sonst alles seinen Anteil leisten muss.
Aber die Tragik des Tages liegt darin, dass nichts die Bauern überzeugte. Sie brüllten und pfiffen weiter. Lindner gebührt Respekt für seine Standfestigkeit. Nur bleibt der fade Beigeschmack, unterschiedliche Gruppen ausgerechnet dort auseinander geredet zu haben, wo im Angesicht massiv organisierten Partikularinteresses ein Appell an den Zusammenhalt aller nötig gewesen wäre.