Immer und immer wieder, fast mantraartig, trugen Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Regierungschefs und -chefinnen der Länder es in den vergangen Monaten vor. Das Ziel aller Mühen ist es, die Zahl der Coronavirus-Neuinfektionen unter den Wert von 50 auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche zu drücken.
Einsame Senioren, abgehängte Schülerinnen und Schüler, in ihrer Existenz bedrohte Händlerinnen oder Friseure – all das ist seit Monaten hinzunehmen, um dem Ziel des 50er-Inzidenzwertes näherzukommen.
50er-Inzidenz bedeutet 5800 Neuinfektionen pro Tag
50 ist ein politischer Wert, schon immer gewesen. Erst beim Erreichen dieser Zahl sei es den Gesundheitsämtern möglich, die Infektionsketten wieder nachzuvollziehen und die Pandemie im Zaum zu halten, hieß es von den Regierenden unisono. Das Fortschreiten der Impfungen solle dabei weitere Erleichterung schaffen.
Bei 82 Millionen Einwohnern in Deutschland bedeutet eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 immer noch mehr als 5800 Neuinfektionen am Tag und damit weiterhin viel Arbeit für die rund 400 Gesundheitsämter.
Zuletzt lag der Wert im Oktober unter 50 und explodierte dann innerhalb von zwei Monaten auf das Vierfache, den Gesundheitsämtern entglitt die Kontrolle über das Infektionsgeschehen zusehends. Zweifel daran, dass dies nicht noch einmal geschieht, scheinen damit berechtigt – auch wenn die Gesundheitsämter inzwischen digitaler arbeiten sollen und personell unter anderem durch Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr unterstützt werden. Auch mit Erreichen der 50er-Inzidenz würde das Management der Jahrhundertseuche ein Ritt auf der Rasierklinge bleiben.
Wissenschaftlich begründet ist der 50er-Wert ohnehin nicht. Das haben unzählige Forscher und Forscherinnen immer wieder deutlich gemacht. Optimal, aber vorerst utopisch, ist ein Wert von 0. Je näher an diesem Wert, desto besser. Wissenschaftliche Initiativen wie "NoCovid" oder "ZeroCovid" künden von dem Bestreben nach einem kurzen, aber sehr hartem Lockdown des Landes, um die Zahlen deutlich nach unten zu bringen.
Inzwischen setzt sich auch in der Politik die Erkenntnis durch, dass die Gleichung "Inzidenzwert unter 50 = Lockerungen" in Zukunft nicht mehr aufgehen könnte – eine weitere Ankündigung der Regierenden in der Pandemie droht damit zu platzen.
Je näher das Land dem Ziel kommt (am Dienstagmorgen meldete das Robert-Koch-Institut 72,8 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche), desto weniger ist von Lockerungen die Rede. Trotz Impfungen, trotz Pflicht zum Tragen medizinischer Masken in vielen Bereichen.
Kanzlerin warnte vor Coronavirus-Mutationen
Es ist nicht die Befürchtung, dass die Gesundheitsämter abermals die Kontrolle verlieren könnten, die zum Umdenken führt. Und es sind auch nicht die Vorschläge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur drastischen Senkung der Fallzahlen in Richtung 0. Es ist die Angst vor einer Ausbreitung von mutierten Varianten des Coronavirus in Deutschland – mit möglichen dramatischen Folgen.
Ansatzweise war die Abkehr vom 50er-Ziel schon am 19. Januar zu erahnen. "All unseren Bemühungen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, droht eine ernsthafte Gefahr", warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Bund-Länder-Gipfel. "Das ist die Mutation des Virus, wie sie vor allem, aber nicht nur, in Großbritannien und in Irland aufgetaucht ist." Die neue Variante sei sehr viel ansteckender. "Das ist eine Hauptursache für den gewaltigen Anstieg der Infektionen sowohl in Großbritannien als auch in Irland." Noch sei in Deutschland Zeit, die Variante einzudämmen, so Merkel im Januar – unwissend, wie weit sie sich schon im Land ausgebreitet hat. "Jetzt ist die Zeit vorzubeugen."
Mittlerweile sind die Zahlen auf dem Tisch. Der Anteil der in Großbritannien entdeckten Variante B.1.1.7 liege bei inzwischen sechs Prozent, sagte der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, am Freitag. Es könne auf die "zunehmende Verbreitung dieser Variante geschlossen werden". Sie sei ansteckender und Sars-CoV-2 also insgesamt gefährlicher geworden", so Wieler.
Das Auftreten der neuen Variante und gleichzeitige Lockerungen haben, neben weiteren Faktoren, andere Länder in schwere Krisen geführt. Ihre Erfahrungen zeigen: Die Zahl der Neuinfektion könnte schneller wieder ansteigen, wenn die Zahl der Kontakte zunimmt – und zwar deutlich dramatischer, als es bisher mit der ursprünglichen Variante des Coronavirus der Fall war.
Welche Szenarien es gibt, sehen Sie im Video:

Aus diesem Grund warnen Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler landauf landab vor zu schnellen Lockerungsversprechen beim nächsten Corona-Gipfel von Bund und Ländern an diesem Mittwoch – trotz stetiger Annäherung an das ursprüngliche 50er-Ziel.
Zuletzt machte Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher, von Beruf Arzt, im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland klar: "Öffnungsschritte darf es erst geben, wenn der Einfluss der Mutationen auf das Infektionsgeschehen beurteilt werden kann. Das ist derzeit noch nicht der Fall." Tschentscher warnte vor einer "dritten Welle".
Kein Jahr wie jedes andere: Ein Virus verändert Deutschland und die Welt

Seit Dezember 2019 häufen sich die Berichte über Menschen, die in der chinesischen Provinz Hubei eine rätselhafte Lungenkrankheit erleiden oder daran sterben – die Ursache ist zunächst völlig unklar. Anfang Januar kann der neuartige Erreger Sars-Cov-2 identifiziert werden. Von der Provinzhauptstadt Wuhan aus geht das Virus um die Welt. Das Bild zeigt die Einlieferung eines Patienten in einem Krankenhaus in der Metropole im Januar.
Sein Amtskollege Markus Söder, Ministerpräsident von Bayern, blies ins gleiche Horn – und lehnte die Ausstiegspläne einiger Bundesländer ab. "Feste Stufenpläne klingen verlockend, können aber rasch zu Enttäuschung führen. Corona ist schwer planbar", sagte er dem "Münchner Merkur" und verwiese ebenfalls auf die neuen Varianten: "Viele Virologen befürchten, dass sich die ansteckendere britische Variante bei uns durchsetzen wird. Für weitaus gefährlicher ist nach Einschätzung von Experten allerdings die südafrikanische Mutation, die jetzt in Tirol nachgewiesen wurde: Der Krankheitsverlauf soll schwerer und die Resilienz gegen Impfungen höher sein. Diese Mutation würde uns wieder weit zurückwerfen." Von weitreichenden Lockerungen bei Erreichen der 50er-Inzidenz war bei Söder keine Rede. Man werde erleichtern, "wenn die Zahlen stimmen".
Auch für Gesundheitsminister Jens Spahn ist das ursprüngliche Ziel nicht mehr das Maß der Dinge. Bevor es konkret werde mit Lockerungsschritten, solle abgewartet werden, "bis wir deutlich unter 50 bei 100.000 sind", sagte er am Wochenende.
Was dieses "deutlich" genau bedeutet, führte Spahn nicht aus. Doch auch der SPD-Politiker und Epidemiologe Karl Lauterbach riet ausdrücklich vor großangelegten Lockerungen ab, sobald der 50er-Wert unterschritten ist. "Epidemiologisch müssten wir sogar verschärfen, weil dritte Welle mit Turbo-Virus droht", mahnte er und schloss sich der Virologin Melanie Brinkmann an: "Diese Welle halten wir nicht so leicht auf."
Brinkmann hatte in einem "Spiegel"-Interview eine düstere Prognose angesichts der Mutanten getroffen: "Es wäre fatal zu hoffen, wir könnten die Maßnahmen mit einer Inzidenz von knapp unter 50 lockern und dabei das Virus im Zaum halten. Die Zahlen würden sofort wieder steigen."
Die Zeichen stehen also auf Verlängerung des Lockdowns. Das Magazin "Business Insider" berichtete jüngst, dass sich Bund und Länder im Vorfeld ihres Gipfels "offenbar auf eine stufenweise Öffnung ab Inzidenzwerten von 35, 20 und 10" geeinigt hätten. Der Wert von 50 spielt demnach wohl keine Rolle mehr.
Bei alledem gibt es aber auch gute Nachrichten: 38 Landkreise haben den Wert von 35 bereits unterschritten, weitere könnten folgen, wenn alle an einem Strang ziehen: Denn auch gegen die mutierten Varianten helfen Abstand, Hygiene, Lüften und Masken.
Quellen: Robert-Koch-Institut, Bundesregierung, "Tagesschau", Redaktionsnetzwerk Deutschland, "Münchner Merkur", Karl Lauterbach bei Twitter, "Spiegel", "Business Insider", Nachrichtenagenturen DPA und AFP