Das Wahlrecht und die Koalition Krach ja, Bruch nein

Alarm bei der SPD: Laut einer Prognose von Wahlforschern kann die Union bei der Bundestagswahl auf eine Vielzahl sogenannter Überhangmandate hoffen. Da kommt eine Abstimmung, bei der die umstrittenen Zusatzsitze abgeschafft werden sollen, der SPD gerade recht. Vor einem Bruch der Koalition, so verlautet inzwischen, sollen die Genossen aber zurückschrecken.

Die SPD will die von ihr geforderte Wahlrechtsreform entgegen anderslautender Aussagen nicht im Alleingang mit der Opposition gegen den Koalitionspartner durchsetzen. So hieß es am Montag aus der Parteispitze. "Selbstverständlich ist die SPD vertrags- und koalitionstreu", zitiert die Nachrichtenagentur Reuters Führungskreise der Genossen. Im Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass die Koalitionspartner Gesetzesänderungen nur gemeinsam beschließen. Ein Verstoß gegen diese Regel liefe auf einen Koalitionsbruch hinaus.

Allerdings müsse die Union erklären, fordern Sozialdemokraten, warum sie das Risiko eingehen wolle, ein vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuftes Wahlrecht für die nächste Bundestagswahl anzuwenden. Dies könne zur Belastung für die Demokratie werden, hieß es aus der SPD.

Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, hatte zuvor im Gespräch mit der "Frankfurter Rundschau" nicht ausgeschlosen, dass seine Fraktion an diesem Freitag im Bundestag für einen Gesetzesantrag der Grünen stimmen könne, der die Überhangmandate weitgehend abschafft. Der Antrag ist fast identisch mit einem früheren Entwurf der SPD, der aber vom Koalitionspartner Union nicht mitgetragen wurde. Er hege "große Sympathien" für das Vorhaben, sagte Oppermann der Zeitung.

SPD-Chef Franz Müntefering hatte in einem Brief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Änderung des Wahlrechts noch vor der Bundestagswahl angemahnt. Es sei "unerträglich" und für die Demokratie "schädlich", wenn das nächste Parlament auf der Basis von Regelungen zusammengesetzt werde, die das Bundesverfassungsgericht im Juli 2008 als grundgesetzwidrig bezeichnet habe. Das Karlsruher Gericht hatte dem Parlament für die Änderung eine Frist bis Mitte 2011 gesetzt.

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zufallen würden. In bestimmten Konstellationen können Überhangmandate dazu führen, dass der Wählerwille ins Gegenteil verkehrt wird.

Hintergrund der einsetzenden Debatte dürfte auch eine Einschätzung von Wahlforschern sein, die am Wochenende publik wurde. Demnach kann offenbar vor allem die Union bei der Bundestagswahl am 27. September mit einer Vielzahl von Überhangmandaten rechnen. Laut einer "Schätzung mit Simulationen" des Friedrichshafener Politologen Joachim Behnke könnten bei der nächsten Wahl so viel Zusatzsitze anfallen wie noch nie. Demnach würde die SPD, selbst wenn sie zwei Prozentpunkte besser abschneidet als in den aktuellen Umfragen, im Schnitt nur 2 bis 3 Überhangmandate erhalten – die CDU dagegen 21, selbst die CSU würde 3 zusätzliche Sitze erhalten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es für Schwarz-Gelb zur Regierungsbildung reicht, so Behnke, liege ohne Überhangmandate bei derzeit 66 Prozent. Rechnet man die Zusatzsitze mit ein, steige die Wahrscheinlichkeit auf knapp 90 Prozent.

DPA
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