Hat er tatsächlich etwas übersehen? Ausgerechnet er? Dieser Präzisions-Fetischist, der mit einer seiner ersten Amtshandlungen als Verteidigungsminister sogar die Schrifttypen und den Zeilenabstand auf Briefen und Vermerken hat vereinheitlichen lassen, damit er beim Studium der Akten, spät abends und übermüdet, nicht wahnsinnig wird.
Womöglich hat ihn sein Faible für die Leistungsfähigkeit moderner Militärtechnik zu lange zögern lassen. Diese felsenfeste Überzeugung, dass der Einsatz von Drohnen eine "riesige Zukunftstechnologie" ist, dem sich ein Land wie Deutschland gar nicht verschließen kann.
When you hit the ground
Oder hat Thomas de Maizière schlicht die Gefahr nicht erkannt, die das abrupte Stoppen eines Rüstungsprojektes in sich birgt, vier Monate vor der Bundestagswahl? Hat er nicht geahnt, wie absurd sich plötzlich die Investition von mehreren Hundert Millionen Euro für die Aufklärungsdrohne "Euro Hawk" ausnimmt – nun, da nach Jahren der Tüftelei klar wird, dass dieser unbemannte Flugkörper eigentlich niemals eine realistische Chance auf eine Fluggenehmigung hatte?
Er sagt, er hätte die Reißleine gezogen für ein unsinnig gewordenes Projekt. Doch in diesen Tagen des ziemlich lauten Schweigens wirkt der Verteidigungsminister, als müsse er, umständlich und viel zu spät, in eigener Sache erst nach der Reißleine suchen, damit sich der Fallschirm für ihn selbst noch rechtzeitig öffnet. Noch käme niemand auf die Idee, an der Charakterfestigkeit dieses Thomas de Maizière zu zweifeln – und doch: Auf einmal ist es, als ob die Flughöhe des "Euro Hawk" auch die Fallhöhe eines Ministers symbolisieren könnte, der eben noch als Reserve-Kanzler gehandelt wurde. Und so haftet dem Minister urplötzlich das Etikett "bedingt regierungsfähig" an – und sein für Angela Merkels Koalition so wichtiges Image der bürgerlichen Solidität droht zu zerbröseln. It´s not the fall that hurts. It´s when you hit the ground.
Staatsräson und Geheimhaltung
Nun hat es also ausgerechnet Thomas de Maizière erwischt. Diesen Ausbund an Zuverlässigkeit und unprätentiöser Durchsetzungsfähigkeit, den die Kanzlerin im März 2011 demonstrativ als eine Art personifizierten Anti-Guttenberg auf den Posten des Verteidigungsministers geschoben hat, damit er mit einem Höchstmaß an Pragmatismus die wirr angestoßene Bundeswehrreform seines Vorgängers exekutiert.
De Maizière, Sohn eines früheren Generalinspekteurs, fügte sich. Pflichtbewusst, loyal, ganz graue Effizienz, die er zuvor schon in seinen Funktionen als Kanzleramts- und Innenminister war. Nach lediglich verhaltenem Widerspruch und nur sechsstündiger Bedenkzeit wechselte er in den Bendlerblock – und lieferte. Geräuschlos veränderte er Ministerium und Armee. Doch es ist eine Herkulesaufgabe, überkomplex. Was Thomas de Maizière nicht verändern konnte - Licht in jenen Graubereich zu bringen, in dem sich Rüstungsindustrie und -lobbyisten tummeln; ein Bereich, in dem noch jede Geheimhaltungsklausel mit Staatsräson begründet wird.
Legitimations- und Kontrolldruck
Es gehört zur Tragik des ins Stolpern geratenen Ministers, dass ihm eigentlich von Anfang an die Eigengesetzlichkeiten der Rüstungsindustrie ein Dorn im Auge waren. Mehr als fünf Milliarden Euro machen die "militärischen Beschaffungen" im aktuellen Verteidigungshaushalt aus. De Maizière muss sich mit Ladenhütern aus dem vergangenen Jahrhundert herumschlagen, mit "Beschaffungsvorhaben", die sich über 10 oder gar 20 Jahre hinziehen. Unmöglich, sagt er, sei es da, für jedes einzelne Projekt eine Chronologie auf Vorrat zu haben. Da kollidiert des Ministers Anspruch auf Präzision doch ganz erheblich mit der Rüstungswirklichkeit.
Hat er womöglich falsche Prioritäten gesetzt? War der Legitimations- und Kontrolldruck für das eigene Handeln nicht groß genug, weil da allenthalben Vertrauen in diesen soliden Regierungshandwerker vorhanden war? In kleiner Runde hat Thomas de Maizière mehr als einmal eingestanden, in den vergangenen zwei Jahren auch Profiteur der Euro-Krise gewesen zu sein. Abseits des medialen Mainstream konnte er zu Werke gehen, nachdem die ideologische Schlacht um die Abschaffung der Wehrpflicht in der eigenen Partei zuvor schon geschlagen war und der Afghanistan-Einsatz sich dem Ende nähert.

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Pragmatiker und Technokrat
In einer Art jahrelangem Dauereinsatz musste die Kanzlerin die Finanzwelt retten. Er selbst hatte dadurch ein erstaunliches Maß an Ruhe, um seine von wohlwollendem Desinteresse der Öffentlichkeit begleitete Neuausrichtung der Bundeswehr durchzuziehen. Es ist bezeichnend, dass er für die entscheidenden Ruhestörungen fast schon selber sorgen musste. Die Debatte um den Einsatz von Kampfdrohnen hat er erst durch seine Äußerung "Ethisch ist eine Waffe stets als neutral zu betrachten" so richtig befeuert. Da wirkte der leise Pragmatiker plötzlich wie ein kalter Technokrat.
"Die Leute wollen nicht, dass wir jeden Tag neue Ideen in die Welt setzen, weil es genug Neues gibt in der Welt", hat Thomas de Maizière einmal gesagt, "die wollen, dass wir erklären und ordentlich handeln. Unsere Aufgabe ist es, unseren Job zu tun. Der ist aufregend genug".
Handeln und Ordnung
Erklären. Und ordentlich handeln. Noch vor ein paar Tagen hätte Thomas de Maizière wahrscheinlich nicht gedacht, dass er in eigener Sache da etwas kombinieren muss. Er wird erklären müssen, ob er überhaupt ordentlich gehandelt hat.