Die Jüngeren erinnern sich nicht mehr daran - aber wir, die Babyboomer sehr wohl. 1990, ich war Student und Praktikant bei einem kleinen Hamburger Radiosender, standen die Trabis kreuz und quer auf der Reeperbahn. Die Sexshops verlangten plötzlich Eintritt, auf dem Fischmarkt schmissen Händler zum Spaß Bananen in die Menge - es war eine einzige verrückte Party. Aber es war auch schon die andere, die dunkle Seite der deutsch-deutschen Annäherung zu sehen. Mein Chef schickte mich zu einer Sitzung ostdeutscher Intellektueller, die in Hamburg über die künftige Verfassung Deutschlands berieten. Sie wollten viel - das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnen - und durften nichts, so viel war schon damals erkennbar. Ein Haufen Abgehängter, politisch ohnmächtig, deren Worte wirkungslos verhallten. Ein eher frustrierendes Erlebnis.
Helmut Kohl, der die Einheit mit einem beherzten Griff an den Mantel der Geschichte in die Wirklichkeit zog, wollte Deutschland nicht wiedervereinigen. Er wollte die BRD, seinen Machtbereich, vergrößern. Deswegen blieb das Grundgesetz, eigentlich nur als Provisorium bis zum Tag der Wiedervereinigung gedacht, einfach in Kraft. Ebenso alle westdeutschen, staatlichen Symbole: Fahne, Hymne, D-Mark, selbst Bonn wäre beinahe als Hauptstadt verewigt worden. Das war eine historische Sünde, die Kohl damals beging, denn er fütterte damit nicht nur das Gefühl der Missachtung, das so viele Ostdeutsche bis heute quält. Er nahm auch uns, den jungen Westdeutschen, die Chance, sich mit der Nation zu versöhnen.
"Gechichte", nicht vollendet
Der Kanzler, ein studierter Historiker, der so gerne von "Gechichte" sprach, und sie noch lieber live zelebrierte - wer erinnert sich nicht an das Händchenhalten mit Francois Mitterand an den Gräber von Verdun - hätte einen neuen Staat gründen können. Mit neuer Verfassung, neuen Symbolen, neuen Grenzen. Ein neues Deutschland in einem neuen Coporate Design. Hätte ein solcher Plan die Einheit unmöglich gemacht, weil es die Ängste vor einer nationalistischen Mittelmacht bei den europäischen Nachbarn über die Toleranzgrenze hinweg getrieben hätte? Ich behaupte: Kohl hat es erst gar nicht versucht, weil er seine Welt für die beste aller Welten hielt. Und im Umgang mit politisch Andersdenkenden im eigenen Land sowieso nur eine Methode schätzte: Unterwerfung.
So blieb uns auch die schwarz-rot-goldene Fahne erhalten, das verflixte Tuch, in das sich nun Millionen deutsche Fußballfans wickeln, um selig trunken Philipp Lahm bei der Eroberung fremder Strafräume zuzusehen. Ist das nun ein gefährlicher Nationalismus, der sich Bahn bricht? Oder ein fröhlicher Patriotismus? Faktisch ist es ein Karneval der Fußballfans, der pünktlich zu jeder Europa- und Weltmeisterschaft anfängt und ebenso verlässlich danach wieder aufhört. Und mit Sicherheit das Big Business einer Industrie, die mit Winkelelementen, Autospiegel-Präservativen, T-Shirts, Malstiften und bedruckten Tüchern gutes Geld verdient.
Maskerade und Entsinnlichung
Der Konflikt, der durch die deutschen Feuilletons tobt, ist ein biografisch-soziologischer. Natürlich waren es im Nachkrieg vor allem Rechte und Konservative, die sich öffentlich in Schwarz-Rot-Gold hüllten. Natürlich war das auch die Fahne des Muffs, der Restauration, der verfehlten Entnazifizierung, des ganzen Dunkeldeutschlands, das sich mit einer Maskerade in die neue Zeit rettete. Das entfärbte und entwertete das Tuch, gemahnte es doch eigentlich an die demokratische Blüte des Hambacher Fests 1832.
Und selbstverständlich distanzierten sich die linksliberalen Nachkriegsdeutschen von jeglicher Form nationaler Symbolik. Für sie war das ganze Tschingdarassabum indiskutabel, weil es die Nazis so blutig instrumentalisiert hatten. Und weil es nun, nach 45, für die "falsche" Gesinnung stand. So landete der linksliberale Teil landete in einem entsinnlichten, diskursiven Verhältnis zum Staat. Jürgen Habermas sprach vom "Verfassungspatriotismus", das war der emotionale Höhepunkt, den sich aufrechter Linke guten Gewissens leisten konnten.
Wangebemalung ohne Metaebene
So entstanden, historisch gesehen, Fahnenliebhaber und Fahnenhasser. Bei den Public Viewings kreuzen sie sich nun mit reichlich Partyvolk, das sich keinen Kopf darum macht, welche Metaebenen es sich auf die Wange gemalt hat. Helmut Kohl hätte sie alle vereinigen können, hätte er einen Sinn für die innere Einheit gehabt. Er hätte die neuen Farben ausgeben und die Nachkriegszeit historisch beenden können. Für die Historiker ist sie das, sie sprechen vom kurzen 20. Jahrhundert, der Zeit der ideologischen Schlachten, die von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Fall der Mauer 1989 reicht. Nur zu sehen sind diese Zäsuren nicht. Leider. Sonst hätten wir die Debatte nicht schon wieder.
Ach Helmut, Du bist uns noch etwas schuldig.