Man muss nicht die "Anne Will"-Sendung am Sonntag verfolgt haben, um zu erkennen: Die Debatte um Feinstaub, Fahrverbote und Schadstoff-Grenzwerte läuft aus dem Ruder, hat mehr vom berüchtigten "Debattierklub" als von einer klärenden Diskussion. Denn in der längst unübersichtlichen Gemengelage aus Wirtschafts- und Politik-Interessen, angezweifelten und maßgeblichen Grenzwerten, geeigneten oder ungeeigneten Messstellen sowie Äußerungen wahlweise glaubwürdiger oder ahnungsloser Mediziner ist längst aus dem Fokus geraten, worum es eigentlich geht: um unser aller Gesundheit.
Ruft man sich das in Erinnerung, wirkt die vom Grenzwert-Kritiker Professor Dieter Köhler initiierte und von mehr als 100 Lungenärzten unterstützteStellungnahme zur Luftverschmutzung doch reichlich merkwürdig. Sollten diese Mediziner nicht - vor allem mit Blick auf die gesundheitlich Schwächsten - in erster Linie das Wohl von Lungenkranken und jenen, die es gar nicht erst werden wollen, im Blick haben? Sollten Ärzte im Zweifel nicht sogar für möglicherweise "zu hohe" Grenzwerte plädieren? Schließlich sind sie doch keine Lobbyisten der Automobil-Branche.
Warum erst jetzt die Bedenken?
Das darf man auch angesichts des Zeitpunkts der Stellungnahme fragen. Die stellt just jetzt, da Gerichte Fahrverbote abgesegnet haben, eben jene Grenzwerte in Frage, auf die die Richter ihre Entscheidungen fällen mussten. Und kommt sie damit nicht all jenen, die es mit dem Auto halten oder auch schlicht aufs Auto angewiesen sind, wie gerufen? Warum melden sich die Lungenärzte erst jetzt, wo doch Grenzwerte schon seit vielen Jahren gelten?
Fragen, die sich auch internationalen Experten stellen, die sich genötigt fühlten, auf die Köhler-Stellungnahme zu reagieren. Darin sagt beispielsweise Professor Nino Künzli, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Lufthygiene des Schweizer Bundesrates: "Die Grenzwert-Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO beruhen auf der gesamten weltweit verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu den Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Gesundheit. Diese experimentelle und epidemiologische Forschung schlägt sich allein in den letzten 30 Jahren in etwa 70.000 wissenschaftlichen Arbeiten nieder. Diese Literatur wird von großen interdisziplinären Fachgremien regelmäßig neu beurteilt." Köhler und seine Mitstreiter suche man "in dieser Wissensgemeinde vergeblich", zweifelt Künzli an, dass die deutschen Grenzwert-Skeptiker über ausreichend Kenntnis über den Forschungsstand verfügen, um ihre Forderung zu untermauern.
"Wir brauchen eine ganzheitliche Sichtweise"
Vor allem aber zeigt Künzli auf, dass es eine reiche Forschung zum Thema gebe, die zudem regelmäßig von Fachgremien neu beurteilt werde. So gesehen kann von veralteten, auf unzulänglicher wissenschaftlicher Basis fußenden Grenzwerten - ein Hauptargument der Lungenärzte - keine Rede sein; erst recht nicht von "willkürlichen Werten", von denen Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) heute sprach. Aber schon sind wir wieder mittendrin im Geflecht von Zweifel und Gegenzweifel; Interessen und Gegeninteressen. Es ist bedauerlich, dass Scheuer nur allzu bereit auf den Zug der Lungenärzte aufsprang, um die leidigen Grenzwerte infrage stellen können. Ganz ähnlich wie die Autoindustrie, die vor allem mit dieser Blickrichtung die intensive Debatte begrüßte.
Immerhin konstatierte Scheuer auch: "Wir brauchen eine ganzheitliche Sichtweise!" Damit hat der CSU-Mann mal recht. Wir wollen und müssen wissen, was gesundheitsschädlich und was unbedenklich ist, was wirtschaftlich machbar und im Sinne der Umwelt notwendig ist. Und wenn sich alles ganz anders verhalten sollte als es bisher diskutiert wurde, dann wollen wir auch das wissen, und in der Folge danach handeln. Was nicht wissen wollen ist, wer da oder dort recht hat.
Eine Aufgabe für Andreas Scheuer
Die Forderung nach einer "ganzheitlichen Sicht" sollte Scheuer daher vor allem als Auftrag an sich selbst begreifen. Für wen, wenn nicht für den Verkehrsminister ist es eine zentrale Aufgabe, in dieser Situation gemeinsam mit der Auto-Branche und der Wissenschaft, unter Beteiligung des Ministerkollegen aus dem Gesundheitsressort, aus der Kakophonie der aktuellen Debatte auszubrechen, und gemeinsam die Fragen nach Feinstaub und Grenzwerten, Fahrverboten und Tempolimits (gegen die sich die Bundesregierung schon ausgesprochen hat) zu beantworten. Es geht immerhin um zentrale Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft. Und - nicht zuletzt - eine gesunde Atemluft. Scheuer könnte sogar einmal dem Image des Verkehrsressorts entfliehen, immer nur als Minister der Auto-Branche wahrgenommen zu werden. All' das klingt aber doch zu schön, um wahr zu werden. Es wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.