Franz Müntefering Papst Franz II.

Er hat seine krebskranke Frau bis zum Tod gepflegt und die Zeit zu Hause genutzt: zum Lesen, Nachdenken, Schreiben. Das hat den Menschen Franz Müntefering verändert, aber nicht den Politiker. Die SPD, die er zum zweiten Mal anführt, darf sich auf einiges gefasst machen - die Union erst recht. Mit ihm wird die Wahl wieder spannend.

Sein dreiteiliger Anzug schlackert luftig an ihm, aber es soll ja keiner glauben, Franz Müntefering habe in den zurückliegenden Monaten an Kraft verloren. Gesund gelebt hat er. Und trainiert wie ein Verrückter. Der 68-Jährige ist täglich vier, fünf Kilometer gejoggt, meistens auf dem Laufband in seinem Bonner Reihenhaus. Seine Muskeln hat er gestählt, mit einem alten Expander. Jeden Morgen zog und zerrte er an diesem Ding, erst 50-mal hintereinander, dann 100-mal, bis ihm eines Tages die Metallfedern um die Ohren flogen. Stolz erzählte er davon seinen Leibwächtern. Die lächelten und murmelten etwas von "Materialermüdung". "Von wegen", antwortete er. "Das war ich."

Das ist der Stoff, aus dem der Mythos Müntefering gewebt ist: die Erzählung vom kantigen, strengen, rätselhaften Franz, hart zu anderen und hart zu sich selbst, von dem Kerl, der sich einen Zahn ohne Betäubung ziehen lässt, weil er sonst beim Termin danach benebelt wäre von der Narkosespritze. Ein Einzelgänger und zugleich Parteisoldat. Ein Machtpolitiker vor dem Herrn, der die Macht auch loslassen kann, um seine krebskranke Frau zu pflegen.

Die Rückkehr

Jetzt, nur zwei Monate nach Ankepetra Münteferings Tod, kehrt er samt seiner Aura auf die große politische Bühne zurück. Ach was, er erobert sie. Aufgeführt werden die Münte-Festspiele in drei Akten. In den nächsten Tagen präsentiert er sein Buch "Macht Politik!" (Startauflage: 100.000 Exemplare), anschließend zieht er mit diesem "neuen Gesellschaftsentwurf ", so die Verlagswerbung, durch die Talkshows der Republik. Am 18. Oktober dann kürt ihn ein Sonderparteitag zum neuen SPD-Vorsitzenden. Das zweite Mal in seiner Karriere wird er "das schönste Amt neben Papst" bekleiden. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. "Kein Papst hat es geschafft, zweimal gewählt zu werden", schrieb ihm eine Genossin per SMS.

Müntefering schafft das. Er wird jetzt Papst Franz II. Sogar die Mission ist noch die gleiche wie beim ersten Mal: die SPD mit ihrer Agenda-Politik zu versöhnen und vor allem - sie an der Macht zu halten.

Bis vor Kurzem galt das als aussichtsloses Unterfangen. Offen schien lediglich die Frage zu sein, wie geschwächt die Partei 2009 in die Opposition gehen wird. Und ob sie sich gleich zerlegen würde oder erst etwas später. Angela Merkel jedenfalls freute sich auf die Auseinandersetzung mit der demoralisierten Truppe von Kurt Beck. Diese Freude hat sich im Kanzleramt ganz plötzlich ganz schnell gelegt. Der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier wird jetzt von einem SPD-Chef Franz Müntefering in die Wahlschlacht geführt. Gegen dieses Duo wird es für die Union ungleich schwerer werden.

Vertrauen

Münteferings Schlüsselwort für den erhofften Sieg heißt "Vertrauen". Die Bürger würden die Partei wählen, der sie am ehesten zutrauen, die Probleme des Landes zu lösen. Das ist das eine. Das andere: Den Kanzler stellen werde in einem Fünfparteiensystem am Ende die Partei, die mehr Koalitionsmöglichkeiten besitzt. Auch hier sieht er die SPD im Vorteil gegenüber der Union. Nur eine Variante schließt er kategorisch aus: ein Bündnis mit der Linken.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Genau das war ja eine der Ursachen für Becks Scheitern: Er hatte die SPD im Umgang mit der Linken unglaubwürdig gemacht. Erst hin, dann her, dann weißnichtmehr. Müntefering kochte vor Wut, Beck schmollte. Müntefering schrieb Brandbriefe nach Berlin, Beck las sie, machte noch mehr Fehler. Müntefering zerriss es schier, er machte sich große Sorgen um seine todkranke Frau und um seine daniederliegende Partei.

Er wollte die SPD retten, und Beck stand ihm dabei im Weg. Also musste Beck weg. Müntefering zwang ihm einen atemraubenden Machtkampf auf, von dem man fast nichts sah und nur manches hörte. "Wir sind im Krieg", stöhnten Becks Mitarbeiter. Wieder so ein Fehler. Über Kriege spricht man nicht, Kriege führt man. Oder lässt sie führen.

Die Nominierung

Anders als Beck war Müntefering klar, wann es zur entscheidenden Schlacht kommen würde: mit Steinmeiers Nominierung zum Kanzlerkandidaten. Als Steinmeier und Müntefering sich verbündeten und die beiden den Parteichef in eine Troika zwangen, war es um Beck geschehen.

Am Ende, vor der SPD-Klausur am Schwielowsee Anfang September, musste Müntefering eigentlich gar nicht mehr so viel tun für sein Comeback. Zermürbt gibt Beck Samstagnacht auf, am Tag danach ruft Steinmeier bei Müntefering in Bonn an, sie telefonieren von 12.40 Uhr bis 12.50 Uhr, dann ist Müntefering neuer Parteichef, er überlegt nicht eine Sekunde lang. Als Steinmeier aufgelegt hat, ruft Müntefering sofort Kajo Wasserhövel an. Wasserhövel ist sein Schatten, seit zehn Jahren sein wichtigster Vertrauter. Pack deine Sachen, sagt der Chef, es gibt Arbeit.

Wasserhövel, Staatssekretär im Arbeitsministerium, ist gerade auf Dienstreise in Philadelphia, bei ihm ist es sieben Uhr am Morgen, er sitzt noch auf dem Hotelbett. Er nimmt die nächste Maschine nach Berlin. Wasserhövel soll den Wahlkampf managen und als Bundesgeschäftsführer die SPD-Zentrale auf Vordermann bringen. Wenig später beordert Müntefering auch noch seinen langjährigen Sprecher Stefan Giffeler und seinen früheren Büroleiter Andreas Kuhlmann ins Willy-Brandt-Haus. Müntes Clan ist wieder vereint.

Vagabundieren durch die SPD-Zentrale

Der künftige Parteichef hält sich an die Etikette. Demonstriert Normalität, absolviert keine offiziellen Auftritte. Er ist ja noch nicht im Amt. In Becks Chefzimmer will Müntefering erst einziehen, wenn er gewählt ist. Bis dahin vagabundiert er in der SPD-Zentrale umher. Oder empfängt Besucher in seinem Abgeordnetenbüro Unter den Linden, fünfter Stock, über der Zimmerflucht von Altkanzler Schröder.

Hier hängt auch das Foto aus dem Film "Goldrausch", die berühmte Szene, in der Charlie Chaplin seinen Schuh verspeist; das Bild hat alle Umzüge der vergangenen Jahre mitgemacht. Chaplin ist Münteferings heimlicher Held, "melancholisch, witzig, lebensmutig". Es könnte eine Selbstbeschreibung sein. Gleich daneben steht ein gerahmtes Foto von Helmut Schmidt, ein Bild aus dem Wahlkampfjahr 1983. Der erste Angestellte seines Staates. Der Macher und Anti-Visionär. Müntefering bewundert Schmidts politisches Credo: pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken.

Es ist kein Zufall, dass er ausgerechnet dieses Bild in seinem Büro ausstellt; bei ihm gibt es keine Zufälle. Es ist ein Zeichen. Ein Statement. Es lautet: Die SPD ist eine Regierungspartei. Sie muss regieren wollen. Immer. Das verfluchte Außenseiter- und Oppositionsgen, das seit der Zeit der Bismarck'schen Sozialistengesetze in ihr steckt, muss raus, raus, raus. Denn Opposition ist und bleibt Mist. Das ist Franz Münteferings oberste Maxime. Die wird er den Genossen als sein eigener Nachnachnachfolger einbläuen, per Buch, Talkshow und Parteitagsrede.

Der Rückzug

"Ich werde mich der Aufgabe zuwenden, die jetzt die wichtigste ist", hatte er seinen Rücktritt vor knapp elf Monaten begründet. Er wurde der "Oberpfleger" seiner Frau, hat mit ihr gehofft und irgendwann auch nicht mehr, hat Spritzen gesetzt, hat bei ihr gesessen und ihr vorgelesen. Am 31. Juli ist sie gestorben. Frühmorgens hat Müntefering noch eine Stellungnahme abgegeben und davor gewarnt, Wolfgang Clement aus der SPD zu werfen. Die Partei war in diesen Monaten sein zweiter Patient.

"Es war ein furchtbares, aber auch ein gutes Jahr", hat Müntefering kürzlich Vertrauten erzählt. Ein hilfreiches Jahr. Es war schließlich auch eine Auszeit von der Hektik des politischen Betriebs, von der Atemlosigkeit, der Rastlosigkeit. Bei aller Bedrückung, er hatte endlich einmal jene Muße, die Politikern sonst so fehlt. Müntefering, der neben dem Sozialgesetzbuch auch Ingeborg Bachmann rezitieren oder über das Geheimnis der Zeit philosophieren kann, hat diese Monate intensiv genutzt, hat nachgedacht, viel gelesen: Rüdiger Safranskis große Studie über die deutsche Romantik, Richard Sennetts "Handwerk" und noch einmal Hans Jonas, "Das Prinzip Verantwortung".

Was ihm durch den Kopf ging, hat Müntefering in seine Schreibmaschine gehämmert. Manches muss er schwarz auf weiß sehen - um dann noch einmal präzisieren zu können. Da ist er altmodisch. Er tauscht ja auch die Schreibmaschine nicht gegen einen Computer, nur sein altes Modell "Erika" gegen eine neue "Gabriele".

Existenzielle Erfahrungen

Franz Müntefering hat ungekannte, existenzielle Erfahrungen gemacht. Er hat im Krankenhaus Menschen getroffen, die ganz andere Sorgen haben als die meisten Politiker und Journalisten in Berlin. Aber ein anderer ist er deswegen nicht geworden. Politik findet er mindestens genauso wichtig wie vorher auch. Sie hat ihn gepackt, sie lässt ihn nicht mehr los.

Das hatte ihn nach seinem Rückzug so nachdenklich gemacht: dass die vielen Briefe und E-Mails an ihn und seine Frau nicht nur gute Wünsche enthielten, sondern oft auch die tröstlich gemeinte Botschaft, nun müsse er sich wenigstens nicht mehr mit dem schmutzigen Geschäft der Politik herumschlagen. Daraufhin schrieb Müntefering in der "Zeit" ein Lob auf die Politik. Daraus ist sein Buch entstanden - über gute Politik, geradlinige Führung, die Pflicht der Politiker zur Macht, eine bessere Zukunft der SPD. Seiner SPD. Im Münte-Sound: heißes Herz, klare Kante.

Bei seinen wenigen Auftritten testet er schon mal die Resonanz darauf. Warnt vor Politikern, die den Wählern nur nach dem Mund reden. Lobt Sisyphos dafür, dass er den Stein immer wieder bergauf rollte. "Man kann etwas bewegen in der Politik", ruft er dann und zitiert die Philosophin Hannah Arendt: "Politik ist angewandte Liebe zum Leben."

Kinder zuerst!

Seinen Genossen präsentiert er sich als ziemlich links. Verliert kein Wort über die umstrittene Agenda 2010, die er früher so vehement verteidigt hat, preist lieber den Sozialstaat als menschheitsgeschichtliche Errungenschaft und erinnert daran, dass die SPD vor 145 Jahren als Arbeiterbildungsverein gegründet wurde. Kinder zuerst! Ohne Bildung, sagt er, keine soziale Gerechtigkeit. Hier gibt er die Grundmelodie für den Wahlkampf vor.

SPD übersetzt Müntefering mit "Selbstbewusste Partei Deutschlands". Darauf muss man erst mal kommen. Bei Beck hätten noch alle gelacht - bei Müntefering hören sie ehrfurchtsvoll zu. In der Bundestagsfraktion standen sie neulich auf den Stühlen, als er dort verkündete, die SPD werde mit Steinmeier den nächsten Kanzler stellen. "Entscheidend ist der Wille zu gewinnen. Dem muss sich alles andere unterordnen."

Müntefering ist der letzte seiner Art. Eine Autorität. Ein Alphatier. Nicht von allen geliebt, aber respektiert - und von vielen auch bewundert. Eher Herbert Wehner als Willy Brandt. Zucht- statt Zeremonienmeister. "Auf Augenhöhe" mit sich selbst sieht er nur sehr, sehr wenige. Kann so einer dienen? Dem unerfahrenen Kanzlerkandidaten Steinmeier etwa? Er habe kein Problem damit, hat Müntefering ihm versichert. "Das hält man aus, wenn man selbstbewusst ist."

Das kann man glauben. Er ist schließlich kein Zyniker. Und er lügt nicht gern. Er schummelt nur manchmal. "Wenn ich kalt dusche, zähle ich bis hundert. Ich gehe nicht eher drunter weg", hat er einmal bekannt. Wie er das bloß aushalte, fragte ihn kürzlich ein Mädchen. "Na ja", antwortete Müntefering, "manchmal zähle ich schon ganz schön schnell."

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