Kolumne: Ganz naher Osten Friedrich Merz, die AfD und das Ende des westdeutschen Hochmuts

Friedrich Merz
CDU-Vorsitzender und Möchtegern-Kanzler: Friedrich Merz
© Andreas Rentz/ / Getty Images
Danke, Friedrich Merz! Fünf lange Jahre hieß es, dass der blaue Tabubruch nur in diesem verrückten Osten passieren könne. Doch dann kam der Kanzlerkandidat der Union.

Nachdem am vergangenen Mittwoch eine Mehrheit des Bundestags beschlossen hatte, geflüchtete Menschen pauschal an den Grenzen abzuweisen, und zwar mit einer Mehrheit aus Union, FDP und AfD, regte sich in mir wenig. Mein vorherrschendes Gefühl war Müdigkeit.

Mir war klar, was jetzt kommen musste. Der Aufschrei der selbsternannten Antifaschisten. Die Triumphgesänge der Extremisten. Die Selbstgerechtigkeit der Angela Merkel.

All das, was in Berlin geschah, hatte ich schon durchlebt, daheim, in Erfurt. Zuerst als Unfall. Dann als Kalkül. 

Das kleine Thüringen, soviel prekärer Provinzpatriotismus muss sein, ist das Original. Da kann der friedfertige Kollege, der meine Kolumnen klugredigiert, noch so milde-ironisch lächeln: Diese Lebensleistung lassen wir uns nicht auch noch wegnehmen!

stern-Autor Martin Debes
© Sascha Fromm

Ganz Naher Osten

stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst

Und weil ich schon mal dabei bin: Jetzt ist es vorbei mit dem preiswerten Hochmut, mit dem auf mein grünherziges Thüringen herabgeschaut wird – so, als gäbe es hier neben gemengten Klößen und sterbenden Fichten ausschließlich diktaturverirrte Menschen. 

Aber zurück zu meiner Beweisführung. Es begann vor ziemlich genau fünf Jahren, und zwar auch an einem verdammten Mittwoch.  An jenem 5. Februar 2020 saß ich auf der Pressetribüne des Thüringer Landtags und tippte hektisch einen neuen Kommentar in meinen Laptop. Denn der Text, den ich vorbereitet hatte, wurde gerade von der Wirklichkeit korrigiert. 

Zweimal schon war der linke Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow an diesem Vormittag mit seiner Wiederwahl gescheitert. Nun, im dritten Wahlgang, in dem gemäß Verfassung der Kandidat mit den "meisten Stimmen" gewählt wäre, wurde aus meiner Vorahnung Gewissheit.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Ein Ministerpräsident von Gnaden Höckes

Die von Björn Höcke geführt AfD stimmte nicht für ihren Bewerber, einen Dorfbürgermeister, sondern für den FDP-Landesvorsteher Thomas Kemmerich. Gemeinsam mit dessen Fraktion und den meisten Abgeordneten der CDU reichte es knapp zur Mehrheit gegen die rot-rot-grüne Minderheitskoalition.

Ramelow hatte verloren und Kemmerich war gewählt. Noch konnte der Sieger den Großeklat verhindern und das Amt ablehnen. Aber er dachte gar nicht daran (und auch nicht an eine Kleinigkeit wie ein Kabinett) und sagte Ja. Damit war er Ministerpräsident von Gnaden des Rechtsextremisten Höcke. 

Sogleich brach die Hölle los, mit Demonstrationen, Sondersendungen und internationaler Empörung. Kein Hitler-Vergleich war zu doof, als dass er nicht getwittert wurde. Ansonsten: Dieser Osten wieder! 

Ich erspare mir ausnahmsweise an dieser Stelle, die Geburtsorte von Kemmerich, Höcke und Ramelow zu referieren. Jedenfalls war die Aufregung maximal.

Angela Merkel meldete sich aus Pretoria

Die frisch gewählten SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nutzten die Gelegenheit, um den Ausstieg aus der großen Koalition zu testen. Angela Merkel dekretierte als Kanzlerin von einem Podium in Pretoria, dass die Wahl "rückgängig gemacht" werden müsse. Parallel dazu fuhr FDP-Chef Christian Lindner nach Erfurt und nötigte Kemmerich dazu, die Abdankung anzukündigen.

Auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer reiste nach Thüringen. Doch sie scheiterte dort mit ihrem Versuch, die Landtagsfraktion von der Notwendigkeit einer Neuwahl zu überzeugen. Den entsprechenden Beschluss ihres Bundespräsidiums interessierte die um ihr Mandat fürchtenden Abgeordneten eher wenig.

Nach dieser schmählichen Niederlage kündigte Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug an. Dies wiederum nahm Friedrich Merz zum Anlass, sich für den Parteivorsitz zu bewerben. Und noch einmal. Und noch einmal.

Aber nicht nur deshalb lässt sich eine Linie von 2020 nach 2025 ziehen, vom Möchtegern-Ministerpräsidenten zum Möchtegern-Kanzler. Denn nachdem Kemmerich zurückgetreten war, schloss der neue Thüringer CDU-Fraktionschef Mario Voigt mit Linke, SPD und Grünen einen sogenannten Stabilitätsmechanismus. 

Der Kern der Vereinbarung sah so aus: Es sollten nur solche Anträge und Gesetzentwürfe abgestimmt werden, auf die sich zuvor die vier Parteien geeint hatten. Im Ergebnis wurde die Höcke-Fraktion kaltgestellt.

Exakt dieses Prinzip verkündete auch Merz nach dem Ende der Ampel-Koalition im vergangenen November: Jetzt, da die Opposition in der Mehrheit sei, sollten bis zur Bundestagswahl nur Dinge im Bundestag abgestimmt werden, die von Union, SPD und Grünen geeint seien. Auf dieser Art, sagte er, würde die AfD aus dem Spiel genommen. 

Die wechselnden Mehrheiten von Erfurt

Aber es geht noch weiter. Nachdem 2021 in Thüringen die mit dem Stabilitätspakt vereinbarte Landtagsneuwahl gescheitert war, kündigte Voigt die Vereinbarung einseitig auf. Danach begann er schrittweise auf wechselnde Mehrheiten zu setzen.

Auf der einen Seite stimmte er bei existenziellen Gesetzen wie dem Landeshaushalt weiterhin mit Ramelows Minderheitsregierung. Doch auf der anderen Seite nutze er die AfD, um Mehrheiten in der Opposition zu erzeugen.

Erst war es ein Antrag gegen Gendern an der Schule. Dann ein FDP-Antrag zur Windkraft. Und schließlich ein Gesetz zur Senkung der Grunderwerbsteuer.

Alles war mit Friedrich Merz abgestimmt

Die Strategie wirkte offensichtlich. Die CDU wollte sich vor der Landtagswahl aus der Umarmung von Rot-Rot-Grün befreien und wieder inhaltlich profilieren. Als Preis dafür nahm sie die Stimmen von Rechtsextremisten billigend in Kauf.

Voigt hatte sich eng mit seinem Vorsitzenden Merz abgestimmt. Das Konrad-Adenauer-Haus erzählte dasselbe, was es heute erzählt: Die CDU könne ja nicht wegen der AfD auf ihre Überzeugungen verzichten. Eine Zusammenarbeit sei das jedenfalls nicht.

Und damit sind wie im Februar 2025, nach der schwarz-blau-gelben Mehrheit, und drei Wochen vor der Bundestagswahl. Insbesondere die SPD behauptet nun, dass Merz eine Regierungsbeteiligung der AfD vorbereite. Die wütenden Dementis der Union fechten sie dabei nicht an. Sie hat jetzt endlich, endlich ihr Mobilisierungsthema.

Aber auch hier – es tut mir wirklich sehr, sehr leid – empfiehlt sich ein Blick nach Erfurt. Dort ist die Parlamentswahl absolviert und Voigt ist Ministerpräsident. Er, der in der Opposition auf Mehrheiten mit der AfD setzte, hat jetzt eine Landesregierung gegen die AfD gebildet, ohne echte Mehrheit, aber dafür mit der Partei der Ex-Kommunistin Sahra Wagenknecht. 

Im Koalitionsvertrag steht, dass jede Mehrheit mit der Höcke-Fraktion ausgeschlossen ist. Ich wage an dieser Stelle die Prognose, dass es zumindest die nächste Bundesregierung ebenso halten wird. 

Für längerfristige Vorhersagen bleiben die Entwicklungen in Thüringen abzuwarten, oder auch im inzwischen mindestens ebenso abenteuerlichen Sachsen. Dank Friedrich Merz ist jetzt alles möglich.

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