Hessen Ministerpräsident ohne Mehrheit

Erstmals tritt in Hessen der neugewählte Landtag zusammen. Da SPD-Spitzenkandidatin Ypsilanti keine sichere Mehrheit hat, bleibt Ministerpräsident Roland Koch geschäftsführend im Amt. Das bedeutet: In Wiesbaden beginnt das große politische Fingerhakeln.

Das Schreiben liegt in der Staatskanzlei bereits vor. Darin kündigen SPD und Grüne an, dass sie die Studiengebühren in Hessen wieder abschaffen wollen. Am Samstag, in der ersten Sitzung des neu gewählten Landtags, wollen SPD und Grüne einen entsprechenden Antrag stellen. Sollte die Linkspartei zustimmen, hat Roland Koch (CDU) das erste Problem an den Hacken. Da er keine eigene Mehrheit hat und nur noch geschäftsführend im Amt ist, müsste der erzkonservative Hesse, der im Wahlkampf brutalstmöglich vor "Ypsilanti, Al Wazir und Kommunisten" warnte, dem Willen genau dieser politischen Gruppierung gehorchen. Es wäre eine öffentliche Demütigung. Wird Koch - welch' Ironie der Geschichte - notgedrungen zum Vollstrecker einer rot-rot-grünen Mehrheit?

Das hängt davon ab, wie viel Macht und Eigenständigkeit ein geschäftsführender Ministerpräsident für sich beanspruchen kann. Unstrittig ist, dass er sein Kabinett nicht mehr nach Belieben umbesetzen darf. Unstrittig ist aber auch, dass er sein Land weiterhin repräsentiert, ob im Bund oder im Ausland. Seine Regierung kann Gesetzesinitiativen starten und Verordnungen erlassen. Also bleibt fast alles beim Alten? Das ist jedenfalls der Eindruck, den das landeseigene Internetportal hessen.de erweckt. Dort haben Kochs Hausjuristen ihre Rechtsauffassung definiert. Demnach gibt es keinen Unterschied zwischen den Kompetenzen einer "Vollregierung" (mit eigener Mehrheit) und einer "geschäftsführenden Regierung" (ohne eigene Mehrheit). Der Passus der Landesverfassung, der besagt, dass die geschäftsführende Regierung nur die "laufenden Geschäfte" besorge, sei ohne praktische Bedeutung. Die CDU beruft sich bei ihrer Auslegung auf den maßgeblichen Kommentar zur hessischen Verfassung, den pikanterweise der frühere SPD-Ministerpräsident Georg August Zinn mitverfasst hat.

Börner - auch nur geschäftsführend

Es ist keine Überraschung, dass die SPD eine andere Auffassung vertritt. Sie verweist auf ein Urteil des hessischen Staatsgerichtshofs von 1984. Darin heißt es: "Die geschäftsführende Landesregierung ist eine Übergangsregierung mit eingeschränkten Befugnissen, denn andernfalls hätte der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich das Beiwort 'laufende' verwendet." Worin die Einschränkungen bestehen, führten die Richter allerdings nicht aus. Im Übrigen ist auch die Rechtsauffassung der SPD nicht ohne Pikanterie: Das Urteil des Staatsgerichtshofs fiel aufgrund einer Klage gegen den damaligen Ministerpräsidenten Holger Börner, SPD. Er war auch nur geschäftsführend im Amt. Der Streit über die Frage, was unter "laufenden Geschäften" zu verstehen ist - und was nicht - dürfte bei erstbester Gelegenheit hochkochen. Möglicherweise wird sich der Staatsgerichtshof nochmal damit befassen müssen.

Koch kann Gesetze verzögern

Für den parlamentarischen Alltag entscheidender ist indes die Frage, wer mit neuen Gesetzen politische Akzente setzen kann. Raufen sich SPD, Grüne und Linkspartei und/oder die FDP zusammen, können sie mit ihrer Mehrheit Gesetze beschließen. Der geschäftsführende Ministerpräsident Widerspruch kann gegen solche Gesetze erheben. Der Landtag kann den Widerspruch aber aufheben. Das heißt: Eine totale Blockade seitens der Regierung ist unmöglich. Aber: Roland Koch könnte das Gesetzgebungsverfahren bis zum St. Nimmerleinstag hinauszögern.

Das beginnt schon in der Phase, in der die Fraktionen Gesetze vorbereiten. Koch verfügt über den Regierungsapparat und damit über eine gut geölte und erfahrene Gesetzgebungsmaschine. SPD, Grüne, Linkspartei und FDP haben keinen Zugriff auf dieses Know-How, bräuchten es aber, um arbeitsfähig zu sein. "Wir erwarten, dass die Landesregierung der Landtagsmehrheit aktiv zuarbeitet", sagt der Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Gerd-Uwe Mende zu stern.de, "also zum Beispiel Fachbeamte für die Beratung zur Verfügung stellt." Ob Koch sie losschicken wird, wenn zum Beispiel die Grünen einen Antrag auf Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften ausformulieren wollen, weiß heute noch niemand.

Frage der Gegenfinanzierung

Nimmt ein Gesetzesvorhaben der Nicht-Regierungsfraktionen diese erste Hürde, kommt die zweite in Sicht: Alles, was Geld kostet, muss gegenfinanziert sein. Das haben SPD und Grüne in ihrem Schreiben zur Abschaffung der Studiengebühren berücksichtigt und entsprechende Möglichkeiten aufgezeigt. Aber akzeptiert der geschäftsführende Finanzminister das Finanzierungsmodel? Regierungssprecher Rainer Kling teilt stern.de im besten Beamtendeutsch mit: "Die Landesregierung hat bereits auf ein entsprechendes Schreiben von SPD und Grünen die Prüfung der Haushaltsdeckungsvorschläge zugesagt. Ob die Vorschläge bereits die von der hessischen Verfassung vorgeschriebene Gegenfinanzierung darstellen, wird im weiteren Verfahren der Gesetzgebung zu prüfen sein." Wie lange sich das Verfahren hinzieht, hängt auch vom politischen Willen der geschäftsführenden Regierung ab. Hürde Nummer drei: Die Regierung reklamiert ein besonderes Prüfungsrecht für sich. "Dem Ministerpräsidenten steht vor der Ausfertigung der vom Landtag beschlossenen Gesetze das Recht einer formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu (vergleichbar dem Prüfungsrecht des Bundespräsidenten)." So steht es auf hessen.de, dem landespolitischen Portal. Wie Sprecher Rainer Kling sagt, beruft sich die Regierung dabei auf Paragraf 119 der Verfassung. In diesem Paragrafen steht jedoch nichts von einem Prüfungsrecht. SPD-Politiker Mende sagt: "Es wird strittig bleiben, ob Ministerpräsident Koch ein materielles Prüfungsrecht für Gesetze hat oder nicht. Aus der Verfassung geht es jedenfalls nicht hervor." Der hessische Rechtswissenschaftler Arndt Schmehl meint, dass im Zweifelsfall der hessische Staatsgerichtshof die Lage klären müsste. Bis das geschehen ist, wird abermals viel Wasser den Rhein herunterfließen.

Unterm Strich könnten Kochs Befugnisse ausreichen, um die Fraktionen des linken Flügels in einen Zustand geschäftiger Ineffizienz zu steuern. "Welchen hinhaltenden Widerstand Herr Koch aufzubringen in der Lage ist, wird man sehen", sagt Mende. Weil der Haushalt für 2008 bereits beschlossen ist, könnte der Ministerpräsident währenddessen in aller Seelenruhe mit Verordnungen weiterregieren. Für Verordnungen, die bestehende Gesetze ergänzen, braucht es keine parlamentarische Mehrheit. Aber es schwant wohl auch Roland Koch, dass er in diesem Fall als Blockierer und Verhinderer gelten würde - und die Option verspielen würde, im Herbst einen Haushalt für das Jahr 2009 aufzustellen. Dafür braucht er eine Mehrheit. Ansonsten müsste er mit einem Nothaushalt regieren, der ihn politisch bewegungsunfähig machen würde.

Neue Bündinisse, Neuwahlen

Also gibt sich Koch neuerdings erstaunlich konziliant. Ganz Staatsmann rief er in einem Interview der Süddeutschen Zeitung dazu auf, sich nicht von der "Lust am Opponieren" überwältigen zu lassen, sondern die politische Gestaltung in den Vordergrund zu stellen. Er kündigte an, auch Gesetze mizuttragen, die ihm nicht in den Kram passen. "Ich habe weder das Selbstverständnis noch das Recht, Parlamentsentscheidungen zu blockieren", sagt Koch. Vorausgesetzt natürlich, sie kämen "ordnungsgemäß" zustande.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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In der Praxis wird das Ringen um Gesetze zugleich ein Ringen um parlamentarische Mehrheiten sein. SPD und Grüne werden Initiativen auflegen, zu denen die FDP kaum Nein sagen kann. Das Ziel: eine Ampelkoalition zu schmieden. Die CDU wird ihrerseits versuchen, die Grünen auf ihre Seite zu ziehen. Das Ziel: eine Jamaika-Koalition zu schmieden. Findet sich kein belastbares Bündnis zusammen, wären Neuwahlen denkbar. Aber auch nur dann.

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