Kippt die Wahlrechtsreform? Die Ampel fürchtet die nächste Ohrfeige aus Karlsruhe – und dann?

Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
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Die Verfassungsrichter könnten am Dienstag Teile der Wahlrechtsreform der Ampel beanstanden. In der Koalition bereitet man sich darauf schon vor.

Am Dienstag gehen die Blicke gebannt nach Karlsruhe: Dort entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob die von SPD, Grünen und FDP beschlossene Reform des Wahlrechts zulässig ist – oder nicht. 

Seit vielen Jahren wird ein aufgeblähter Bundestag mit zu vielen Sitzen moniert. Das will die Ampel ändern. Der Kern ihrer Reform sieht vor, die Anzahl der Abgeordneten bei 630 zu deckeln – das wären rund 100 weniger als derzeit. 

Doch nach stern-Informationen stellen sich Ampel-Politiker auch auf das Szenario ein, dass ihre Reform von den Karlsruher Richtern in Teilen beanstandet werden könnte, an einigen Stellen nachgebessert werden muss. 

Und dann?

Die Koalition hatte die Reform gegen die Stimmen der Opposition beschlossen. Ein heikles Unterfangen. Schließlich setzt man sich als Regierung ohne überparteilichen Konsens schnell dem Verdacht aus, die Spielregeln so zu ändern, dass sie einem selbst nutzen – und die Opposition das Nachsehen hat. 

Diesen Vorwurf erheben insbesondere CSU und Linkspartei, die vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. Sie sehen etwa ihre Chancengleichheit verletzt. "Diese dreiste Wahlrechtsmanipulation der Ampel ist eine Respektlosigkeit gegenüber dem Wählerwillen und der Demokratie an sich", kritisierte am Wochenende CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im stern. "Dieses Wahlrecht kann erheblichen Schaden am Demokratieprinzip auslösen und darf keinen Bestand haben."

Auch wenn man das Urteil erst abwarten will, kursieren in der Ampel bereits unterschiedliche Szenarien, wie man im Fall der Fälle reagieren könnte. Schon im kommenden Jahr findet die Bundestagswahl statt, entsprechend knapp wäre die Zeit, etwaige Änderungen umzusetzen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Karlsruhe-Urteil: Was wäre, wenn…?

Zwar behält das neue Wahlrecht die Erst- und Zweitstimmen auf dem Wahlzettel bei, schafft aber die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate ab. Überhangmandate bedeuten, dass eine Partei über die Erststimmen, mit denen Direktkandidaten im Wahlkreis gewählt werden, mehr Mandate erhält als ihr eigentlich über die Zweitstimmen zustehen. Diese Mandate werden dann für die anderen Parteien über Ausgleichsmandate ausgeglichen. In den vergangenen Jahren führte das dazu, dass der Bundestag immer weiter anwuchs. 

Künftig soll allein das Zweitstimmenergebnis über die Sitze einer Partei im Bundestag entscheiden – was aber dazu führen könnte, dass manche Kandidaten nicht in den Bundestag einziehen, obwohl sie die meisten Stimmen in ihrem Wahlkreis erhalten haben.

Gleichzeitig hat die Ampel die sogenannte Grundmandatsklausel abgeschafft. Diese besagt, dass eine Partei unter einer bestimmten Voraussetzung auch dann in den Bundestag einziehen kann, wenn sie bundesweit auf weniger als fünf Prozent der Stimmen kommt: Wenn sie mindestens drei Wahlkreise direkt gewinnt. Von dieser Regelung profitierte besonders die Linkspartei. Sie blieb bei der vergangenen Wahl knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde, konnte aber dank drei gewonnener Wahlkreise trotzdem in den Bundestag einziehen. Mit der neuen Regelung wäre das nicht mehr möglich. 

Doch auch die CSU, die nur in Bayern antritt und dort traditionell viele Direktmandate gewinnt, könnte die Abschaffung der Klausel in Schwierigkeiten bringen. Zwar hat sie es in der Vergangenheit stets über fünf Prozent der bundesweiten Zweitstimmen geschafft. Bei der vergangenen Bundestagswahl allerdings denkbar knapp mit 5,2 Prozent. Fiele sie künftig darunter, könnte sie keines ihrer direkt gewonnenen Mandate wahrnehmen – und wäre nicht mehr im Bundestag vertreten. Die freien Mandate würden dann auf die anderen Bundesländer verteilt, was zu einer regionalen Schieflage führen würde.

Grundmandatsklausel könnte wieder eingeführt werden

Manche, die die Verhandlungen vor dem Gericht verfolgt haben, halten es für möglich, dass die Richterinnen und Richter dem Gesetzgeber die Aufgabe erteilen, die Rechte von Kleinstparteien besser zu berücksichtigen. Je nachdem, wie die Verfassungsrichter ihr Urteil genau begründen, könnte eine Möglichkeit sein, die Fünf-Prozent-Hürde abzusenken, etwa auf vier Prozent. 

Das jedoch ist recht unwahrscheinlich. Ein entsprechendes Urteil aus Karlsruhe wäre ein tiefer Eingriff in die Gesetzgebung, der den Bundestag wohl weiter fragmentieren und allerhand Fragen aufwerfen würde. Nicht zuletzt, was das für Landtagswahlen bedeuten würde. Dort gilt auch die Fünf-Prozent-Hürde. Dass die Ampel aus eigenem Antrieb, also ohne Vorgabe aus Karlsruhe, diesen Weg wählt, kann daher als ebenso unwahrscheinlich gelten.

Ein anderes Szenario sehen manche darin, die Grundmandatsklausel wieder einzuführen, sollte ihre Abschaffung beanstandet werden. Die war im ersten Aufschlag für das Gesetz ohnehin noch vorgesehen. Erst knapp vor der zweiten Lesung im Bundestag fand die Abschaffung ihren Weg in den Gesetzestext. 

In der Ampel herrscht Nervosität

Um der Sondersituation der CSU besser Rechnung zu tragen, könnte auch eine Listenverbindung mit der CDU ermöglicht werden. Diesen Vorschlag hatte die Ampel schon im Frühjahr 2023 eingebracht, wurde aber von CDU-Parteichef Friedrich Merz als "geradezu übergriffig" zurückgewiesen. 

Eine Listenverbindung ist ein Bündnis mehrerer Parteien, die sich gemeinsam zur Wahl stellen. Ihr wird entsprechend ihrem Ergebnis eine Anzahl von Mandaten zugewiesen, die intern nach dem Stimmenanteil der jeweiligen Partei verteilt werden. Die CSU tritt nur in Bayern an, die CDU nur in den anderen Bundesländern.

Die Unionsparteien hätten sich entschlossen, "in räumlich unterschiedlichen Wahlgebieten zu kandidieren und nicht zu konkurrieren", sagte Merz seinerzeit. "Das wird so bleiben, egal, was andere politische Parteien davon halten."

Die wirksame Deckelung der Abgeordnetenmandate ist das zentrale Element der Reform, entscheidet folglich auch über Erfolg oder Misserfolg des Vorhabens. Mehrere Regierungen sind bislang daran gescheitert. Dass das Gericht die Zweitstimmendeckung insgesamt beanstandet – also den wesentlichen Teil, um den Bundestag tatsächlich zu verkleinern – gilt mehreren Ampel-Politikern aber als unwahrscheinlich. 

Komme es zu einer teilweisen Beanstandung durch das Gericht, könne man die nötigen Anpassungen noch rechtzeitig vor der nächsten Wahl schaffen, heißt es. Diese Vorgabe könnte das Gericht dem Gesetzgeber auch machen: "Vorstellbar ist, dass das Verfassungsgericht dem Bundestag eine Frist vor der nächsten Wahl setzt, bis zu der er das Gesetz verändern muss", sagte der Jurist Ulrich Battis dem stern. Hier lesen Sie das gesamte Interview.

Für den Fall, dass das Gesetz vor Gericht doch komplett gekippt werden sollte, dürfte sich in den kommenden Jahren wohl erstmal keine Regierung mehr an eine Reform wagen. Für die Ampel wäre das eine sensible Niederlage. Die Karlsruher Richter hatten im Sommer 2023 schon die Verabschiedung des "Heizungsgesetzes" gestoppt, einige Monate später die Umwidmung von Corona-Krediten als verfassungswidrig erklärt. Vor dem Urteil am Dienstag blicken daher viele im Regierungsviertel nervös nach Karlsruhe.