"Lokführer zu werden war mein Kindheitstraum", bekennt Sven Blühdorn. Aufrecht sitzend, mit gefalteten Händen und in schicker Bahnuniform erklärt der 37-jährige ICE-Fahrer, warum sein Geld nicht reicht: Er ist verheiratet, hat zwei Kinder im Alter von ein und zwei Jahren, seine Frau ist darum zu Hause und seine Steuerklasse extrem günstig. Trotzdem bleiben, je nach Schicht, nur etwa 1900 Euro übrig. "Da muss an allen Ecken und Enden geknappst werden. An Urlaub ist sowieso nicht zu denken". Darum unterstützt er die Forderungen der GDL, und darum war er auch gestern auf dem Hamburger Hauptbahnhof als Streikposten.
Schichtdienst im Schnellzug
Dabei steht er noch gut da. Die Masse der Lokführer kriegt fürs gleiche Bruttogehalt nur etwa 1.600 Euro raus. Und das inklusive der Wochenend- und Schichtzulagen. Lokführer Blühdorn zeigt einen Einsatzplan: 3.08 Uhr bis 9.48 Uhr, 7.00 Uhr bis 18.25 Uhr, 21.23 Uhr bis 8.52 Uhr. Knüppeln für die Bahn, und Mama sagt zu den Kindern: Papa schläft. Frei hat er nur jedes dritte Wochenende. Ein Ergebnis des harten Dienstes ist die Tatsache, dass weniger als fünf Prozent der Lokführer das normale Rentenalter erreichen. Sie müssen fit sein, werden alle drei Jahre medizinisch untersucht und müssen jedes Jahr an einem Simulator ihre Tauglichkeit beweisen. "Das ist ähnlich wie bei Piloten", sagt Norbert Quitter, Bezirksvorsitzender der GDL Nord. Er wirkt wütend, denn er spürt, dass die Forderung der Gewerkschaft nach einem eigenen Tarifvertrag für Lokführer schwer durchzusetzen sein wird.
Risiko Selbstmörder
Die ständig wechselnden Arbeitszeiten sind nur eine Belastung im Beruf des Lokführers. Neben der Verantwortung für die vielen Menschen im Zug müssen viele den Alptraum erleben, der für Sven Blühdorn im Januar 2001 auf einer Fahrt mit dem ICE Realität wurde: Ein Mann stellt sich auf die Strecke, rückt noch seinen Rucksack zurecht und lässt sich überfahren. Selbstmord. "Danach", erklärt er scheinbar nüchtern, "war ich drei Wochen krankgeschrieben. Dann bin ich wieder gefahren wie vorher." Nicht jeder wird damit fertig. Die Folge ist häufig Erwerbsunfähigkeit. Und die Statistik sagt, dass Unfälle mit "Personenschaden" nicht etwa die Ausnahme sind. Pro Jahr und Lokführer ein Unfall, das ist viel und Alltag zugleich. Natürlich sind das nicht nur Selbstmörder, und nicht jeder Zusammenprall zwischen Mensch und Zug geht tödlich aus. Aber in fast allen Fällen ist Bremsen schwer oder sogar unmöglich. Eine Belastung mehr, und ein Grund mehr für den aktuellen Arbeitskampf.
Wer streikt und warum?
Beteiligt an den Streikaktionen sind drei Gewerkschaften, neben der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) die Transnet und die GDBA. Laut der GDL, die nach eigenen Angaben 75 Prozent der Deutsche Bahn-Lokführer vertritt, liegt deren Verdienst zwischen 1970 und 2142 Euro brutto. Bis zu 350 Euro können monatlich durch Zuschläge, vor allem für Wochenendarbeit und Nachtschichten, dazu kommen. "Das sind 1500 netto", sagte GDL-Chef Schell im ZDF. Nach Bahnangaben dagegen komme ein verheirateter Lokführer auf durchschnittlich 2100 Euro netto im Monat.
Nur gut die Hälfte der Lokführer bei der Deutschen Bahn ist von dem Streit über die geforderte Gehaltserhöhung um bis zu 31 Prozent überhaupt betroffen. Rund 40 Prozent der 20.000 Lokführer sind noch immer verbeamtet und fallen deshalb nicht unter den Tarifvertrag.
Die GDL will für ihre Forderung nach deutlich mehr Geld notfalls auch einen unbefristeten Arbeitskampf starten. Ihre Mitglieder seien unzufrieden mit der Forderung von sieben Prozent mehr Einkommen, die die Gewerkschaften Transnet und GDBA gestellt haben. Die GDL verlangt auch einen eigenen Tarifvertrag.
AP/DPA
Seit Jahren Reallohnverluste
"Die 31 Prozent-Forderung ist der Extremfall und bezieht sich nur aufs Einstiegsgehalt", relativiert Gewerkschafter Quitter die hohen Zahlen und macht klar: "Wir kommen von einem niedrigen Niveau". Lokführer Blühdorn zum Beispiel würde nach inzwischen 20 Jahren Berufsleben beim Bahnangebot von zwei Prozent 42 Euro mehr bekommen - brutto. Ginge es nach der GDL, würde er 20 Prozent mehr bekommen.

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Vorstände: Plus 62 Prozent
Ob es Zwist zwischen den alten Bahnbeamten und den Angestellten gibt? Nein, sagen beide, denn die stünden im Berufsleben kaum besser da. Erst im Ruhestand ziehen die Angestellten den deutlich Kürzeren. Vorsorgen können die Angestellten auch nicht, weil der Reallohn seit der ersten Stufe der Bahnprivatisierung 1994 um zwölf Prozent gesunken und schlicht kein Geld übrig ist. "Die Vorstände haben sich allein im letzten Jahr 62 Prozent Erhöhung genehmigt", zitiert Quitter aus dem offiziellen Bahnbericht und ergänzt, dass der Gewinn mit 2,4 Milliarden Euro plus der von Hartmut Mehdorn angekündigten Verdoppelung des Gewinns in den ersten zwei Quartalen dieses Jahres auch nicht von Pappe sei.
Drei Viertel sind in der GDL
Mit 34.000 Mitgliedern sammeln sich in der GDL drei Viertel aller Lokführer. Und die haben naturgemäß mehr Macht als die Mitarbeiter am Schalter. Sie können die Räder zum Stillstand bringen und Pendler wütend machen. Das soll aber gestern die Ausnahme gewesen sein. Die meisten Reisenden, so Blühdorn und Quitter, hätten Verständnis gezeigt oder wären gleichmütig gewesen. Nun treffen die Vertreter der GDL mit Bahn-Chef Mehdorn zusammen.