stern-Chefredakteur Sprengt Christian Lindner die Ampelkoalition? Gregor Peter Schmitz über den neuen stern

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Chefredakteur Gregor Peter Schmitz über den aktuellen stern
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Finanzminister Christian Lindner ist im Schuldenstreit mächtig wie nie – und steckt selbst in der Klemme. Die stern-Titelgeschichte über den FDP-Chef, der plötzlich das Schicksal der Koalition in der Hand hat

Eine Koalition (von mittellateinisch "coalitio": Zusammenwachsen, Vereinigung) ist ein temporäres Bündnis politischer Parteien. Diese koalieren miteinander, um eine stabile Regierung zu bilden. Man muss sich die Wikipedia-Definition in diesen Tagen anschauen, weil die Ampelkoalition die Definition schlicht nicht mehr verkörpert. Gewiss, dass es sich um ein temporäres Bündnis handelt, ist an jedem Tag in Berlin zu spüren. Aber was ist mit Merkmalen wie "Zusammenschluss" und "stabil"? Man erwartet gar nicht mehr, dass diese Regierung sich, wie im Zauber ihres Anfangs, als Fortschrittsbündnis auf Selfies inszeniert. Aber könnte sie nicht wenigstens keine Gegeneinander-Koalition sein?

Die Chaostage seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ein 60-Milliarden-Loch in die Haushaltsplanung gerissen hat, zeigen die Verwerfungen auf. Regierungsintern läuft die Arbeitsteilung offenbar so: Bundeskanzler Scholz sagt entweder nichts, oder er spöttelt offen über sein Schweigen, etwa während eines Auftritts beim Digitalgipfel: "Wäre natürlich für Sie spannend, wenn Sie jetzt hier bei mir irgendwas anschalten könnten, und ich würde Ihnen meine Gedanken offenlegen oder das, was ich an Austausch mit Herrn Habeck und Herrn Lindner und Herrn Wissing habe. Aber das behalten wir noch für uns." Ah ja.

Vizekanzler Robert Habeck hingegen hört gar nicht mehr auf zu reden und lässt die ganze Welt an seinem Schmerz teilhaben über die böse Opposition und wohl auch das undankbare Volk. Warum verstehen Wählerinnen und Wähler nicht endlich, so lässt sich Habeck interpretieren, was die Ampel alles Gutes will? 

Und FDP-Chef Christian Lindner? Er steht in seiner Partei unter Druck, die wegen schlechter Umfragewerte an diesem Bündnis verzweifelt. Er steht öffentlich unter Druck, weil das Aufstellen des Bundeshaushalts in seinen Verantwortungsbereich als Finanzminister fällt. Und er steht unter Druck, da ihn ein Satz aus der eigenen Vergangenheit einholt: Wäre es besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren? Sprengt Lindner also diese Ampelkoalition – oder klammert er sich, schon mangels Macht-Alternative, an sie? Darum kreist die Titelgeschichte unseres Berliner Büros. 

Falls übrigens die Christdemokraten um Friedrich Merz nun zu laut frohlocken sollten, sei ihnen etwas Rechenlehre empfohlen. Gut möglich, dass die Union angesichts der Ampel-Malaise den nächsten Kanzler stellen wird. Doch welchen Spielraum, gerade finanziell, hätte dieser? Der fröhliche Oppositionsführer Merz von heute könnte der verzweifelte Kanzler von morgen sein.

Aufregung um den Kommentar unseres Kollegen

Unser Autor Moritz Gathmann schreibt seit vielen Jahren über die Ukraine, er hat das Land oft bereist, er beobachtet den Konflikt mit wachem Geist und wachem Herzen. Deswegen hat er am vergangenen Wochenende einen Kommentar im Deutschlandfunk veröffentlicht, in dem er – durchaus pointiert – argumentiert, wir würden den Ukrainern keinen Gefallen tun, wenn wir ihnen weiter vom Sieg erzählten. Es war ein sachliches Plädoyer für mehr Realismus. Daraufhin brach der Hass im Netz sehr unsachlich über Gathmann herein. 

Ich könnte vieles schreiben, warum es schlecht ist, wenn wir nicht mehr streiten können, ohne uns gleich zu zerstreiten. Ich zitiere aber einfach unseren Kollegen und Ukraine-Kenner Paul Ronzheimer, der auf X (früher Twitter) schreibt: "Ich verstehe die Aufregung über den Kommentar nicht. (…) Auch wenn viele (auch ich) eine andere Meinung haben zur Frage, wie/unter welchen Umständen der Krieg in der Ukraine enden kann bzw. sollte, ist es doch wichtig, verschiedene Perspektiven zu hören. Moritz spricht die Sprache, hat schon über den Maidan berichtet und war selbst viele Male an der Front sowohl seit 2014, aber eben auch seit 2022. Es ist nicht fair, wie er hier von einigen beschimpft wird. Lest seine Stücke, z.B. im stern, aufmerksam, es lohnt sich." 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Erschienen in stern 49/2023