Es war irgendwie alles ganz schlimm in Deutschland und der Welt, Notstandsgesetze wurden verabschiedet, der Amerikaner hatte sich in Übersee in einen heillosen, nicht zu gewinnenden Krieg verrannt und die Opposition war außerparlamentarisch. Doch dann kam einer, der Deutschland aufhorchen ließ, der jung und alt mobilisierte und eine Politikwende in Deutschland einleitete. Willy Brandt war ein sympathischer Mann mit einem bewegten Leben, der seine Partei, nach der Machtübernahme 1969, zu einem historischen Sieg bei der Bundestagswahl 1972 und das geteilte Deutschland näher zueinander führte - sozusagen Sozialdemokratie mit menschlichem Antlitz.
Heute, 35 Jahre später, sind diejenigen an der Macht, die sich so gern als die Enkel Brandts sehen, der Amerikaner hat sich in Übersee in einen heillosen, nicht zu gewinnenden Krieg verrannt und die Opposition klatscht fröhlich in die Hände. Und diesmal kommt keiner. Weder der neue SPD-Chef Franz Müntefering noch Kanzler Gerhard Schröder selbst können in diesen Tagen, der größten SPD-Niederlage bei einer bundesweiten Wahl seit dem Zweiten Weltkrieg, sich auch nur selbst mobilisieren.
Zitat
"Die deutsche Wahlbevölkerung hat gestern die Nehmerqualitäten der SPD testen wollen. Das Fazit ist: Wir sind nicht K.o., aber schwer angeschlagen."
Niedersachsens SPD-Landeschef Wolfgang Jüttner zum Ausgang der Europawahl.
Die Sozialdemokraten haben so lange reformiert und debattiert - Hartz 1, 2, 3, ob du wirklich richtig stehst, weißt du, wenn das Licht angeht - und dabei gar nicht gemerkt, dass so recht die Bürger nicht mehr folgen können oder wollen.
Das gute Porzellan der Großväter - zerschlagen
Die Enkel haben das gute Porzellan der Großväter zerschlagen und wundern sich, dass sie auf einem Scherbenhaufen sitzen, dessen Ausmaße sie kaum überblicken können. Die Partei der sozialen Sicherheit und der Chancengleichheit hat sich bereits bei der Bundestagwahl 1998 von denen verabschiedet, die einst zu ihren Stammwählern gehörten. Die Bürger, die doch lieber einer anständigen Arbeit nachgehen, anstatt als Ich-AG Schnürsenkel in der Fußgängerzone zu verkaufen und für die sich "Neue Mitte" nur nach alter Leier anhört, finden in der SPD der Enkel offensichtlich kein zu Hause mehr.
Und selbst diejenigen, die aus traditioneller Verbundenheit ihr Kreuzchen bei der SPD gemacht haben, entgleiten den Genossen. Wenn mein Vater, knapp 60 Jahre alt, Rentner und seit über 40 Jahren Gewerkschaftsmitglied, meint, dass die Grünen seine Interessen besser vertreten würden als die Sozialdemokraten, dann bleibt eigentlich keine Hoffnung mehr. Es sei denn, die Sozis machen einen mutigen Schritt und ehrlichen Schnitt, lösen sich selbst auf und wählen, in einem letzten Kraftakt, Gesine Schwan zur Bundeskanzlerin.
Die neu zu gründende SPD könnte dann bei den nächsten Wahlen, mit komplett neuer alter Programmatik, als Partei rechts von den Grünen und links von der Union, mit einer Kampagne für mehr Arbeitsplätze auf den Werften und in der Montanindustrie, noch einmal ganz von vorne anfangen - die 5-Prozent-Hürde ist ja auch jetzt schon nicht mehr allzu fern. Und dann, irgendwann, wenn Deutschland mal wieder am Boden liegt, dann kommen die Enkel von Gerd und Münte und erfinden sie neu, die neue Neue Mitte. Und nach ein paar Jahren ärgern sie sich wahrscheinlich auch genauso wie die Großväter, dass sie nicht bei der alten Linken geblieben sind.