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Merkel und das "Neuland" Es geht um etwas anderes

Das Internet sei "Neuland", hat die Kanzlerin gesagt – und dafür viel Spott geerntet. Dabei wird übersehen, dass der Begriff das geheimdienstliche Spitzeln im Netz legitim erscheinen lässt.
Ein Gastbeitrag von Juli Zeh

Am Anfang habe ich über "Neuland" gelacht. Da steht unsere Bundeskanzlerin neben dem mächtigsten Mann der Welt und hat nichts Besseres zu tun, als ganz Deutschland zum medialen Neandertal zu erklären. Sie sagt nicht, dass sich die Nutzungsmöglichkeiten im Internet so rasant entwickeln, dass es nicht immer leicht ist, das mediale Geschehen politisch zu begleiten. Sie behauptet vielmehr, das Netz sei "für uns alle Neuland". Das ist der treudoofe Gestus einer Internet-Ausdruckerin, die scheinbar fehlende Medienkompetenz als gesellschaftliches Problem verkauft. So weit, so absurd.

Prompt gießt die Netzgemeinde ihre Häme über Angela Merkel aus. Wieder einmal zeigt sich, wie tief der digitale Graben ist, der sich noch immer durch die Gesellschaft zieht. Auf der einen Seite Menschen, die Briefe mit der Hand schreiben und auf ihrem Handy nur telefonieren wollen. Auf der anderen Seite "digital natives" und "digital immigrants", die das Internet nicht als verbessertes Rohrpostsystem, sondern als Lebensraum betrachten.

Juli Zeh

... 38, ist Juristin und Schriftstellerin. In ihren jüngeren Publikationen ("Angriff auf die Freiheit", "Diktatur der Demokraten") untersucht sie den Zustand der Bürgerrechte im digitalen Zeitalter.

Dass beide Daseinsformen ihre Berechtigung haben, muss man nicht extra erwähnen. Auch im 21. Jahrhundert gibt es keinen Kommunikationszwang, und das Benutzen von Facebook, Twitter und Spotify macht einen Menschen nicht automatisch klüger oder moderner. Natürlich bringen technische Revolutionen veränderte Identitäten hervor. Immer wieder erlebe ich, wie schwer es ist, Vertretern der Rohrpost-Theorie verständlich zu machen, dass und inwiefern mit dem Entstehen des Internets neue Weltbilder einhergehen. Schon jetzt ist der kulturelle Unterschied zwischen Offlinern und Onlinern innerhalb eines Stadtviertels wahrscheinlich größer als zwischen "digital natives" in Berlin und Tokio.

Das ist aber noch lange kein Grund für die aggressive Arroganz, mit der sich mancher bei Twitter unter dem Hashtag Neuland über die Kanzlerin hermacht. Kulturelle Unterschiede hin oder her – es gibt keinen Zündstoff für einen echten Konflikt. Dass die Alten den Jungen Sittenverfall und die Jungen den Alten Vorgestrigkeit vorwerfen, ist ein alter Hut. In Wahrheit nehmen sich On- und Offliner gegenseitig nichts weg. Woher also die Aufregung?

Keine digitale Naivität, sondern taktische Ahnungslosigkeit

Tatsächlich geht es um etwas anderes. Angela Merkel sagt nicht die Wahrheit. Das Internet ist gar kein "Neuland" für sie. Seit Jahren benutzt sie das Netz zu professionellen Werbezwecken. Es gibt eine Webseite, einen Video-Podcast, den Facebook-Account mit 300.000 Fans und einen twitternden Regierungssprecher.

Merkels plötzliche Internet-Legasthenie muss im Kontext betrachtet werden. Leicht gekürzt lautet der zweite Halbsatz aus ihrem Berliner Statement: "Das Internet … ermöglicht Feinden unserer demokratischen Grundordnung, mit völlig neuen Möglichkeiten unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen."

Als es in Deutschland um die Online-Durchsuchung ging, sprach der damalige Innenminister Schäuble vom Internet als einer Art "Telefonanlage". In der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung wusste die damalige Justizministerin Zypries nicht, was ein Browser ist. Und wenn die Bundeskanzlerin den amerikanischen Präsidenten darauf ansprechen soll, was es mit der flächendeckenden Kommunikationsüberwachung im Rahmen des Prism-Programms auf sich hat, ist das Internet plötzlich "Neuland".

Das ist keine digitale Naivität, sondern taktische Ahnungslosigkeit: Das Netz wird zum unerforschten Dschungel, in dem sich feindliche Krieger mit Krummsäbeln verstecken. Gegen intransparente Gefahren sollen intransparente Überwachungsmethoden legitim erscheinen.

Die Kanzlerin verkauft vor allem die Bürger für dumm

Damit müsste sich die #neuland-Debatte im Netz beschäftigen: mit einer Kanzlerin, die nicht nur sich, sondern vor allem die Bürger für dumm verkauft, wenn es um die wichtigste Herausforderung für die Demokratie im 21. Jahrhundert geht; nämlich um die Frage, wie in einer Welt, in der totale Kontrolle technisch möglich ist, das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit gewahrt werden soll.

Die aktuellen Skandale um Prism und Tempora haben gezeigt, dass wir inzwischen auf den Mut von Whistleblowern wie Edward Snowden angewiesen sind, um zu erfahren, wie eng die Behörden uns im Namen der Sicherheit auf den Pelz rücken. Seit dem 11. September 2001 werden die Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten immer weiter ausgedehnt, ohne dass die Position der Bürger ausreichend gestärkt würde. Für den Einzelnen ist es unmöglich zu erfahren, ob und warum er auf einer Gefährderliste geführt wird, wer seine E-Mails mitliest oder seiner Festplatte einen Besuch abstattet. Es kann reichen, im Rahmen einer Recherche verdächtige Webseiten zu besuchen oder die falschen Suchbegriffe einzugeben, um ins Visier der Behörden zu geraten.

Angela Merkel ist in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Sie weiß, dass sich ein Staat, der Bürger ausspioniert, ohne dass diese auch nur davon wissen, nicht Demokratie nennen kann. Ihr müsste die Aufgabe am Herzen liegen, den digitalen Wandel aus einer bürgerrechtlichen Perspektive zu begleiten. Im Kommunikationszeitalter ist Datenschutz das, was der Umweltschutz für die Industrialisierung war. Beim Umweltschutz haben wir Jahre verloren, weil wir das Ausmaß der verursachten Schäden zu spät erkannten. Es wäre höchste Zeit zu verhindern, dass dieser Fehler ein zweites Mal passiert.

Das Problem ist nicht, dass Merkel davon nichts versteht, sondern dass sie davon nichts wissen will. Hat man sich das klargemacht, bleibt einem das Lachen über #neuland im Hals stecken.

Ein Gastbeitrag von Juli Zeh

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