Sekunde, ist das etwa Friedrich Merz? Ganz genauer Blick auf die Bühne, vorbei an den rund 250 Gästen, die vorzugsweise bei Schnitzel, Pommes und einem Kaltgetränk das herrliche Wetter in Frankfurt genießen. Nein, falscher Alarm, es ist definitiv nicht Oppositionschef Merz – der ja bekanntlich besonders zuverlässig darin ist, einen Olaf Scholz aus der Reserve zu locken. Es ist Bernd Reisig, der dem Kanzler an einem Tisch im Außenbereich der "Lohrberg-Schänke" gegenübersitzt. Und eine denkwürdige Szene nach der anderen aus ihm herauskitzelt.
Am Ende dieses Freitagabends wird Scholz ein Lied gesummt, einen Olaf-Scholz-Witz erzählt, Schallplatten aufgelegt und "Prost!" gerufen haben. Ein bisschen Politik und ein Appell an seine streitlustige Koalition ist auch dabei. Aber, und das würde Friedrich Merz gewiss nicht gelingen: Olaf Scholz, der immerzu beherrschte Hanseat, macht sich locker. Bis zur Scholz’schen Schmerzgrenze.
Wofür? Die Frage lautet eher: für wen.
Olaf Scholz gibt sich für Späße her
Scholz ist zu Gast bei "Bembel & Gebabbel", einer etwas anderen Online-Talkshow, die regelmäßig im rappelvollen Restaurant "Lohrberg-Schänke" in Frankfurt aufgezeichnet wird. Hier verlaufen "die Gespräche meist anders als man denkt", heißt es schon in der Show-Beschreibung. Spiele, Musikeinlagen, schunkelnde Gäste – mit "Maischberger" oder "Anne Will" hat dieser Talk nichts zu tun.
Es ist keinesfalls so, als hätte Scholz das nicht wissen können. Er weiß ja ohnehin viele Dinge viel früher als alle anderen. Aber er war er hier auch schon einmal zu Gast. Im Februar 2020, da war Scholz noch Finanzminister und Vize von Angela Merkel. Aber, so erzählt es Gastgeber und Moderator Bernd Reisig: Scholz soll seinerzeit versprochen haben, als Kanzler wiederzukommen. Hat er von der Sache mit dem Kanzleramt etwa auch schon gewusst?
Egal, Scholz ist wieder hier und gibt sich für allerhand Späße her. Und das, so muss man das wohl sagen, obwohl er nun Kanzler ist. Außerhalb von Hessen dürfte von der "Kult-Show" (Eigenwerbung) kaum Notiz genommen werden. Aber Hessen würde schon reichen.
Der wesentliche Grund für Scholz‘ Einsatz sitzt im Zuschauerraum, wenige Meter hinter ihm: Nancy Faeser, Bundesinnenministerin und halb-überraschender "Ehrengast" an diesem Abend. Sie ist auch SPD-Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl im Oktober. Faesers Erfolgschancen: Geht so, ihr Wahlkampf läuft schleppend. Die Umfragen führt Amtsinhaber Boris Rhein von der CDU an.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Faeser erhofft sich offenbar einen Schub durch den Kanzler, der schon den ganzen Tag mit ihr in Hessen unterwegs gewesen ist. Und der Kanzler, letztendlich, dass er bald einen Ersatz für seine Bundesinnenministerin suchen muss. Denn das wäre deutlich angenehmer, als eine ausgewiesene und angeschlagene Wahlverliererin im Kabinett zu haben – auch im Fall einer Niederlage soll Faeser Innenministerin bleiben.
So drastisch würde der Kabinettschef das natürlich nicht ausdrücken. Auf die Frage, wie sehr er angesichts seiner verzwickten Lage nun der CDU die Daumen drücke, antwortet Scholz lieber: "Gar nicht." Er wünsche den Hessen, dass sie eine erstklassige Ministerpräsidentin bekommen würden.
Dafür legt sich der Kanzler mächtig ins Zeug. Das Sakko hat er ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt, die Hand an einem Gerippten (für Nicht-Hessen: ein Apfelweinglas). "Wir bleiben beim Du", sagt er zu Moderator Reisig. Und los geht’s.
Im Hessen-Quiz babbelt der Kanzler hessischen Dialekt, für ein anderes Spiel summt er den Song "Eye of the Tiger" – während das Publikum erstmal in klösterlicher Stille lauscht, um die Melodie erraten zu können. Dem Kanzler ist sein Unbehagen anzusehen. Er lächelt ein tapferes Lächeln. Sichtlich mehr Gefallen findet Scholz daran, den Soundtrack für die kurzen Verschnaufpausen zwischen den Fragen auszusuchen. Insgesamt drei Vinyl-Singles legt er im Verlauf der 90-minütigen Sendung auf den Plattenteller. "Ehrlich gesagt: Die Auswahl war bemerkenswert schlecht", sagt der Kanzler und hat die Lacher auf seiner Seite. Die Stimmung ist bestens. Beim ersten Lied (Tina Turner – "We Don’t Need Another Hero") klatscht das Publikum im "Wetten, dass..?"-Takt – und der Kanzler klatscht mit.
Olaf Scholz erzählt einen Witz. Über Olaf Scholz
Die harten politischen Themen, an denen es in Zeiten von Krieg und Klimakrise keinesfalls mangelt, werden auf der Terrasse der "Lohrberg-Schänke" eher pflichtschuldig verhandelt. Moderator Reisig überlässt das lieber den Kollegen von "Berlin Direkt", die Scholz an diesem Sonntag zum "Sommerinterview" empfangen. Gut so. Der Kanzler zeigt sich empfänglich für die lockere Gesprächsatmosphäre, in der er kritische Nachfragen nicht fürchten muss. Das macht ihn locker, bringt ihn ins Reden. Außerdem sind Scholz‘ Antworten auf vermeintlich abwegige Fragen ohnehin viel interessanter.
Beispiel: Wie hält es Scholz eigentlich mit dem Gendern? Immerhin sei der ja "Experte" auf dem Gebiet, attestiert Moderator Reisig. Als Beweis wirft Reisig einen Zusammenschnitt von TV-Szenen auf einen großen Bildschirm, in denen Scholz die Gender-Endungen konsequent verschluckt ("Bürger und Bürger").
"Prost!", sagt Scholz und nippt an seinem Äppler. Kontroverses Thema, die Gender-Debatte. Er nuschle manchmal, versucht er einen Scherz. "Aber mal in der Sache: Wir brauchen etwas mehr Gelassenheit." Da ist er wieder, der Gelassenheits-Kanzler. Alles sei erlaubt, sagt Scholz. Ob Gar-nicht-Gendern oder mit Kunstpause ("Bürger-In"): Am Ende zähle nur, dass alle an einem Tisch sitzen könnten – und noch ein zweites Getränk miteinander nehmen. Darauf: nochmal Prost. Anerkennender Applaus aus dem Publikum.
Mehr Gelassenheit würde sich Scholz auch von seiner rauflustigen Koalition wünschen, sagt er an anderer Stelle. Ihm missfällt, dass der "notwendige" Streit zwischen den Ampel-Parteien oft "laut" geführt werde – selbst, wenn schon Kompromisse in der Koalition getroffen worden seien. Das mute "merkwürdig" an, sagt Scholz. Er hoffe, dass es nach der Sommerpause ruhiger zugehe und "nicht so aufgeregt im Ton, wie das oft der Fall war". Angesichts der vielen Reiz- und Streitthemen in der Koalition, vom Haushalt 2024 bis zum Industriestrom, kann man daran zweifeln.
War am Ende des Abends auch etwas für die Nachrichtenagenturen dabei? Die politische Forderung, die große Kontroverse für die Titelseiten? Nicht wirklich. Dafür bekam man den Kanzler von einer anderen Seite zu sehen. Weniger beherrscht, mehr gelöst. Einen Kanzler, der verrät, dass seine letzte Mahlzeit auf Erden – auch danach wurde er gefragt – wohl Königsberger Klopse wären. Und einen Kanzler, der sich selbst auf die Schippe nehmen kann.
Letzte Frage: Ob er, Olaf Scholz, einen guten Olaf-Scholz-Witz kenne? Kurze Kunstpause. "Ich habe so Gedächtnislücken", antwortet der Kanzler. Dieser Abend dürfte ihm in Erinnerung bleiben.