Die SPD-Mitglieder haben am Samstagabend für eine große Überraschung gesorgt. Mit 53,06 Prozent der Stimmen gewannen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die Wahl. Bekannt ist, dass die designierten Vorsitzenden den Koalitionsvertrag gerne nachverhandeln würden und die Partei linker ausrichten wollen. Die Mitglieder haben nicht nur eine klare Tendenz ausgesprochen, sondern eine Revolution angestoßen. Die Pressestimmen aus Deutschland:

"Spiegel Online": "Die SPD wird künftig eine andere Partei sein. Doch was für eine?"
Was ist da passiert? Die SPD-Mitglieder haben mit 53 Prozent für ein relativ unbekanntes, GroKo-skeptisches Team gestimmt - und nahezu der gesamten Parteiführung die Rote Karte gezeigt. Es ist ein Votum gegen das Weiter-so, ein Aufstand gegen die Rolle als Juniorpartner der Union. Eine Revolution. Die SPD wird künftig eine andere Partei sein. Doch was für eine? Esken und Walter-Borjans müssen nun zeigen, dass sie einen Plan haben. In den kommenden Tagen werden sie versuchen, sich mit den entscheidenden Akteuren der Partei zu verständigen. Viel Zeit bleibt nicht. Schon in sechs Tagen findet der Parteitag statt. Die beiden haben in den vergangenen Wochen einige Bedingungen für den Fortbestand der Koalition formuliert, die Grundrente ohne Vermögensprüfung zählt dazu, eine Nachbesserung des Klimapakets sowie die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Diese Bedingungen wurden weithin als letzter Versuch gelesen, noch ein paar Anhänger zu mobilisieren - jetzt sind sie plötzlich das Programm des neuen Duos. Walter-Borjans und Esken müssen daran festhalten, wenn sie nicht gleich ein Glaubwürdigkeitsproblem kriegen wollen. So kündigte Walter-Borjans noch am Abend an, künftig auch an den Sitzungen des Koalitionsausschusses teilnehmen zu wollen. Es sei normal, dass die Parteichefs der Spitzenrunde bei Kanzlerin Angela Merkel beiwohnten, sagte er.
"Frankfurter Allgemeine": "In dieser SPD können auch Esken und Walter-Borjans schneller als gedacht scheitern"
Zerstört die SPD sich so selbst? Zumindest lässt die Wahl von Esken und Walter-Borjans die Partei weiter im Ungewissen. Und sie zeugt nicht von staatspolitischer Verantwortung. Denn was wird nun aus der Koalition, von der die SPD inhaltlich bisher deutlich mehr profitiert hat als die Union und die für Stabilität steht? Letztlich bedeutet die Wahl eben doch ein "Weiter so", allerdings das "Weiter so" jener, denen Führung, Macht und Durchsetzungskraft seit jeher suspekt sind und die auch die große Koalition lieber heute als morgen aufgeben würden. Esken und Walter-Borjans bekommen nun ihre Chance, aber die SPD gibt sich auf, und für Deutschland ist das ein politisches Erdbeben. Niemand sollte sich etwas vormachen: In dieser SPD können auch Esken und Walter-Borjans schneller als gedacht scheitern.

"Süddeutsche Zeitung": "Die SPD hat sich selbst besiegt"
Die Appelle zur Geschlossenheit in der SPD, sie klingen jetzt schon gequält. Das kann auch nicht anders sein, nachdem Esken und Walter-Borjans vor allem gewählt wurden, weil das Duo Scholz/Geywitz verhindert werden sollte. Olaf Scholz steht seit jeher für Regierungspragmatismus. Es bleibt eines der großen Rätsel dieses Mitgliederentscheids, warum der Ankauf von Steuersünder-CDs Walter-Borjans in den Rang eines Robin Hood am Rhein erhob, und andererseits eine erfolgreiche Wohnungsbaupolitik in Hamburg oder die Einführung des Kurzarbeitergeldes in der Finanzkrise Olaf Scholz auf seinem parteiinternen Konto keine Zinsen brachten. Für seine Art der Politik gibt es nun keine Mehrheit mehr in der Partei. Die SPD hat sich selbst besiegt.
"Taz": "Versöhnen statt spalten"
Die SPD-Basis hat mit dieser ziemlich überraschenden Wahl der neuen linken Spitze das nötige Signal schon gesetzt. Sie will etwas Neues. Esken und Nowabo verkörpern die überfällige Wende der SPD, die Sehnsucht nach einer anderen Politik. Aber gerade beim Neuen ist Augenmaß wichtig. Dies ist nur dann eine Chance für eine renovierte Sozialdemokratie, wenn zweierlei geschieht: Scholz und das Parteiestablishment müssen ihre Niederlage wirklich und nicht nur rhetorisch akzeptieren, besser noch: verstehen. Die neue linke Führung darf nicht hektisch Machtkämpfe anzetteln. Fakt ist: 45 Prozent haben sie nicht gewählt. Auf dem Parteitag einen irrealen Forderungskatalog für Verhandlungen mit der Union durchzuprügeln, ist keine gute Idee. Diese neue Führung sollte den Spruch von Walter-Borjans' Vorbild Johannes Rau beherzigen: Versöhnen statt spalten. Sonst kann aus dem Aufbruch schnell ein Abbruchunternehmen werden.
"Welt": "Dann zerbricht die GroKo. Die Bremsen sind gelöst"
Walter-Borjans und Esken haben einige Bremsklötze gelockert. Der GroKo-Ausstieg war die zentrale Folgerung aus dem Wunsch. Die Basis murrt, die Basis soll weiter mitreden, die neuen Vorsitzenden ermuntern sie dazu. Walter-Borjans sagte bei einem von der RND-Mediengruppe organisierten Auftritt am 18. November, die SPD habe viel zu lange "die Meinungen der Führung übergestülpt auf das Publikum, das verdutzt geguckt hat". Das soll nun vorbei sein. Das neue Team will auf die Basis hören, und wenn es damit ernst macht und es ernst meint, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder Walter-Borjans und Esken hören auf sämtliche Stimmen in der Partei. Dann lähmt die SPD sich öffentlich selber, und die GroKo kommt zum Stillstand. Oder Walter-Borjans und Esken hören nur auf diejenigen in der Partei, denen sie ihre Wahl verdanken. Dann zerbricht die GroKo. Die Bremsen sind gelöst. Ein Zug fängt an, knirschend und quietschend das abschüssige Gleis hinabzurollen. Wieder einmal.
"NZZ am Sonntag": "Politischer Wechsel in Deutschland"
Die Tür zu einem politischen Wechsel in Deutschland ist aufgegangen. Mit der klaren Wahlempfehlung für das linke Duo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken als neue SPD-Vorsitzende läuft die Zeit für die große Koalition ab. Beide sind erklärte Kritiker des Regierungsbündnisses, das Deutschland im Inneren wie im Äußeren lähmt. (...) Auch wenn sich das designierte Führungsduo nach der Wahl durch die Parteibasis betont zurückhaltend gab: Politisch wird es nun Druck machen, Fraktion und eigene Minister in die Parteipflicht nehmen, Vorgaben für den Kurs der Regierung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik machen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel und die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht hinnehmen werden. Walter-Borjans und Esken suchen die Sollbruchstelle. Ob es ihnen gelingt, die SPD damit wieder auf die Beine zu stellen, ist zweitrangig. Die deutsche Politik steuert längst in eine andere Richtung. Sie heißt Schwarz-Grün. Der gesellschaftliche Wandel, den Umfragen und Wahlergebnisse in diesem Jahr bezeugten, stützt diesen Kurs
Quellen: "Spiegel Online" / "Frankfurter Allgemeine" / "Süddeutsche Zeitung" / "Taz" / "Welt" / "NZZ am Sonntag"