Die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Stuttgart titelt in der Oktoberausgabe des "Magazin Wirtschaft": "Wirtschaft freut sich auf S-21". Auf acht Seiten erklärt die IHK ihren Mitgliedern, warum der Neubau des Stuttgarter Bahnhofs und die dazugehörigen Projekte vernünftig sind. Auch Bahnchef Rüdiger Grube, der Industrielle Hans-Peter Stihl und andere regionale Unternehmenslenker präsentieren im Heft ihre Argumente für Stuttgart 21. Aber stimmt das? Freut sich wirklich die ganze Wirtschaft?
Direkte Demokratie im antiken Griechenland muss ähnlich ausgesehen haben: Im Hof des Kulturzentrums "Forum 3" in Stuttgart haben sich am Mittwoch vergangener Woche etwas über 100 Menschen versammelt. Die meisten sitzen auf Biergartenstühlen in einem Kreis, manche querbeet auf Steinen und Mauern. René Engelhardt ergreift das Wort. Würde er keinen Anzug und Krawatte tragen, man könnte ihn für einen etwas in die Jahre gekommenen Studentenführer halten. Überhaupt erinnert die basisdemokratische Atmosphäre stark an eine Uni-Veranstaltung. Aber der Schein trügt: hier sitzen nur Unternehmer zusammen.
Engelhardt, Chef eines kleinen Handelsunternehmens für Maschinen, ist einer der Organisatoren. Es ist das erste Treffen Stuttgarter Unternehmer gegen S-21. Von der Resonanz ist er überwältigt, ein wenig wohl auch überfordert. Er fragt in die Runde, ob jemand Erfahrung mit dem Ablauf und der Moderation einer solchen Veranstaltung hat. Eigentlich war ein Raum für 20 Personen reserviert, mit einer solchen Resonanz hat niemand gerechnet. "Das gibt's nicht, das ist echt Wahnsinn", freut sich Engelhardt.
IHK-Präsident "zu stark in S-21 verwickelt"
Wichtiges Gesprächsthema ist das aktuelle Magazin der IHK. René Engelhardt ist über die eindeutige Positionierung des Interessenverbandes zum Megaprojekt S-21 empört. Er wirft dem Präsidenten der Stuttgarter IHK, Herbert Müller, vor, "zu stark in S-21 verwickelt zu sein". Sein Einsatz für das Projekt gehe "weit über das Maß einer sachlichen Auseinandersetzung" hinaus. Dabei heiße es doch eigentlich in den Statuten, dass sich die IHK zu Objektivität verpflichte und Unabhängigkeit von Einzelinteressen gewähre. Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der IHK-Stuttgart, weist den Vorwurf zurück: "Es gab in den vergangenen Jahren in verschiedenen Gremien der IHK Stuttgart zahlreiche Diskussionen über Stuttgart 21. Bei allen Abstimmungen gab es deutliche Mehrheiten für die Tieferlegung des Bahnhofs und die dazugehörigen Projekte."
Engelhardt hat sich so sehr über das Titelthema im IHK-Magazin aufgeregt, dass er bei der Handelskammer anrief und seine Mitgliedschaft beenden wollte. "Die haben mich am Telefon wie einen Schuljungen behandelt und mir hämisch mitgeteilt, dass ich zur Mitgliedschaft gezwungen bin", schimpft er. Deshalb hat er den Abend organisiert. Sein Wunsch wäre es, wenn sie heute gemeinsam einen offenen Brief formulieren würden. Darin eine Hauptforderung: Die IHK solle ihre einseitige Befürwortung von S-21 aufgeben und im kommenden Mitgliedermagazin einen ausführlichen Bericht über die Alternative "Kopfbahnhof 21" drucken.
Richter sagt dagegen, er habe als Reaktion das Titelthema des aktuellen IHK-Magazins nicht einmal 30 kritische Zuschriften von Unternehmern erhalten, was weniger als ein Promille der Mitglieder sind. "Alle die uns geschrieben haben, haben von mir persönlich eine qualifizierte Antwort erhalten." Außerdem habe jedes Unternehmen, dass sich an die IHK wende, die Möglichkeit zu einem persönlichen Gespräch. Auch mit der Gruppe "Unternehmer gegen S-21" werde man selbstverständlich reden, wenn diese das wünschen.
Kleine können anspruchsvolle Ausschreibungsbedingungen nicht erfüllen
Wieso sind eigentlich auch Unternehmer gegen die Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs? Müssten sie nicht ein großes Interesse an dem Bauprojekt haben? Doch keiner der Anwesenden rechnet damit, geschäftlich von Stuttgart 21 zu profitieren. Architekten, Rechtsanwälte, Grafikdesigner, Unternehmensberater, Handwerker - es sind überwiegend Kleinunternehmer und Selbstständige, die an dem Treffen teilnehmen. "Die anspruchsvollen Ausschreibungsbedingungen können wir Kleinen doch gar nicht erfüllen. Dass können nur international agierende Bau- und Industriekonzerne", sagt eine Frau. "Die wollen so viel Kapital wie möglich herausschlagen und vergeben Aufträge an Subunternehmer weiter, welche Billigarbeitskräfte, aber keine lokalen Handwerksbetriebe einsetzen", glaubt Engelhardt.
IHK-Hauptgeschäftsführer Richter bestätigt auf Anfrage von stern.de, dass die Bahn als öffentlicher Auftraggeber europaweit ausschreiben müsse. Und da es dabei vor allem um Tunnel- und Tiefbauarbeiten gehe, werden sich vermutlich nur große Bauunternehmen und Industriekonzerne bewerben. Doch er ist sich sicher, dass im Umfeld der Baumaßnahmen auch kleinere Betriebe etwa aus der Gastronomie, Werkstätten, die den Maschinen- und Fahrzeugpark warten oder Bauunternehmen, die den Aushub entsorgen sowie viele örtliche Dienstleister zum Zuge kommen. "Wir rechnen damit, dass ein Großteil der Wertschöpfung in der Region und Baden-Württemberg verbleiben wird", sagt Richter.
Bahnchef Grube zu IHK-Mitgliederversammlung eingeladen
Er sei nicht grundsätzlich gegen eine Modernisierung des Stuttgarter Bahnhofs, sagt René Engelhardt. Der sei zwar immer noch einer der leistungsfähigsten Bahnhöfe in Deutschland, aber auch wegen der Planungen für S-21 sei zu wenig Geld in den Erhalt geflossen. Investitionen in das Streckennetz der Landshauptstadt und das marode Bahnhofsgebäude seien darum zwingend erforderlich. "Ich bin absolut kein Fortschrittsverweigerer", sagt er, "aber ich bin Schwabe und Unternehmer". Deshalb achte er besonders auf das Preis-Leistungsverhältnis. Für erheblich weniger Geld, könne man effektiv mehr rausbekommen. "Es sind kosten- und nutzenoptimierte Lösungen gefragt und keine Architekturdenkmale auf Kosten der Steuerzahler", fordert Engelhardt. Als Geschäftsleute, die sich mit Investitionen und Kalkulationen auskennen, kommen sie zu dem Ergebnis, dass das Konzept "Kopfbahnhof 21" erhebliche Vorteile hätte.
Am Montagabend findet in der Liederhalle in Stuttgart eine Mitgliederversammlung der IHK statt. Eingeladen ist Bahnchef Rüdiger Grube, den die Anwesenden zu S-21 befragen dürfen. René Engelhardt kritisiert aber, dass nicht auch ein Kritiker des Projektes wie etwa der Bahnexperte Karl-Dieter Bodack sprechen dürfe. "Dies ist eine reine Propagandaveranstaltung", sagt Engelhardt. Andreas Richter von der IHK sieht das anders. Bahnchef Grube beantworte auf Wunsch der Mitglieder Fragen von Unternehmern zu Stuttgart 21. "Eine gemeinsame Veranstaltung mit Herrn Bodack halten wir derzeit nicht für sinnvoll, weil wir keine Showveranstaltung wollen." In der aufgeheizten Situation sei es momentan nicht angebracht, wenn Befürworter und Gegner gleichzeitig diskutierten. So könne es keine vernünftige Gesprächsatmosphäre geben.