Lesung in Halle An einer Stelle wird es für Sahra Wagenknecht knifflig

Sahra Wagenknecht
Sahra Wagenknecht bei einer Lesung in Jena Ende September: "Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Weil das heißt, dass Sie noch ein bisschen denken."
© Funke Foto Services / Imago Images
Sie macht jetzt Ernst, will eine neue Partei gründen: Bei einer Lesung in Halle nimmt Sahra Wagenknecht ein Bad unter ihren Fans, erklärt Teile ihrer Pläne. Doch bei einer Frage aus dem Publikum muss sie sich verteidigen.

Vor zweieinhalb Jahren erschien ein Buch von Sahra Wagenknecht. Manche sagen auch: eine Abrechnung mit der Linkspartei. Am Donnerstagabend sitzt sie, die nach wie vor Parteimitglied ist, im Steintor-Varieté in Halle (Saale), sie will aus "Die Selbstgerechten" lesen.

Doch an diesem Abend drängt sich ein anderes Thema auf. Das weiß auch Wagenknecht. Zu Beginn der Veranstaltung in einem der ältesten Varieté-Theater Deutschlands kündigt sie an: Sie werde zunächst lesen, 40 Minuten lang. Danach aber werde es genügend Zeit geben, aktuelle Themen zu besprechen. Eines dürfte viele beschäftigen, sagt sie.

Was Wagenknecht meint: Mittlerweile weiß man, dass sie Ernst machen wird mit der Gründung einer eigenen Partei. Das war lange vermutet worden, die Linken-Politikerin hatte öffentlich damit kokettiert. Am Montag wird sie ihre Pläne in der Bundespressekonferenz vorstellen. Details darf sie erst dann nennen. "Lassen Sie uns doch trotzdem mal ein bisschen teilhaben", sagt einer der beiden Moderatoren, ein sich outender Wagenknecht-Fan.

Diese Lesung ist dadurch nicht mehr nur irgendeine Lesung. Sie ist der erste öffentliche Auftritt der prominentesten Linken-Politikerin nach diesem Bekanntwerden, das auch zu ihrem Ausscheiden aus der Partei führen wird. Wie kommt Wagenknecht an mit ihren Plänen?

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Sahra Wagenknecht: "Weil das heißt, dass Sie noch ein bisschen denken"

Vereinzelt sind Plätze frei, es gibt noch ein paar Karten an der Abendkasse, doch der Saal ist gut gefüllt. Wagenknecht wird angekündigt, das Publikum applaudiert, es vergeht fast eine Minute bis sie auf die Bühne kommt. Jubelrufe ertönen, als sie dann zu sehen ist. Sie sitzt, im hellblauen Blazer, bereits am Tisch in der Mitte der Bühne, da geht der Applaus in ein rhythmisches Klatschen über. Ein Schmunzeln huscht über Wagenknechts Gesicht.

Zugegeben, es ist hier einfach für sie. Eine Frau in der ersten Reihe sagt, sie sei über Hundert Kilometer angereist, aus einem Ort kurz vor der niedersächsischen Grenze. Nur für Wagenknecht. Ein Mann in den hinteren Reihen kam sogar aus Freiburg im Breisgau nach Sachsen-Anhalt. Der, der Wagenknecht ankündigt, fragt das vor der Veranstaltung ab, als er durch die Reihen läuft. Sonst sind da viele aus Halle, einige aus Magdeburg.

"Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind", sagt Wagenknecht. Die schwarzen Vorhänge im Hintergrund sind in rotes Licht getaucht. "Weil das heißt, dass Sie noch ein bisschen denken. Denn so wie es jetzt ist, geht es nicht weiter."

"Das stimmt", sagt eine Besucherin auf ihrem Platz und nickt energisch. Applaus brandet auf.

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Immer wieder gibt es Applaus an diesem Abend. Wagenknecht hat entschieden, aus dem Vorwort der jüngsten Ausgabe zu lesen, dieses habe sie vier Monate nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine geschrieben. Ihre Botschaft: Es müsse andere Wege geben, Konflikte zu beenden als den militärischen Weg. Eine zentrale Ursache für den Überfall Russlands ist für sie eine vorherige Demütigung des Landes durch den Westen. Der Regierung und großen Teilen der Gesellschaft attestiert sie eine "Kriegslust". Sätze, bei denen man sich unweigerlich an Töne aus der AfD erinnert fühlt.

Für sie passt alles ins Bild – sie inszeniert sich als Kämpferin gegen ein linksliberales Lager, das sich ihrer Ansicht nach vor allem über Moral definiere. So werde das Gegen-Russland-Sein zu einem "perfekten Krieg gegen das Böse". Eine abweichende Meinung werde vom Mainstream nicht akzeptiert, behauptet sie. Das sei auch bei Migrationsthemen so, das sei in der Corona-Pandemie so gewesen, das zeige sich nun auch in der Diskussion über den Nahost-Konflikt. "In unserer öffentlichen Debatte ist Differenzierung immer weniger angesagt", resümiert Wagenknecht. Oft seien die Dinge aber nicht schwarz-weiß.

Es ist der Übergang zu ihrer neuen Partei, zu der sie im Anschluss von den beiden Moderatoren befragt wird. "Es gibt viele, die sich von keiner Partei mehr vertreten fühlen", meint Wagenknecht. Menschen würden immer verzweifelter, ohne dass soziale Probleme angegangen würden. Hinzu komme: Die aktuelle Regierung mache alles immer nur schlimmer. Wohin das am Ende führe, wolle sie sich nicht ausmalen. Viele wählten die AfD aus Wut, ist Wagenknechts Diagnose. Darunter seien viele "seriöse Menschen", die brauchten eine "seriöse Adresse" mit "seriösen Konzepten".

Eine Besucherin sagt: "Ich habe sehnlichst darauf gewartet"

Die Linkspartei sei dabei nicht ihr politischer Gegner, sagt deren ehemalige Fraktionsvorsitzende, sie bedaure deren Zustand. Doch habe sich die Partei für einen Weg entschieden, der nun dazu geführt habe, dass der Wählerzuspruch ausbleibe. In den vergangenen Jahren warf Wagenknecht der Linken immer wieder vor, mit ihrem Fokus beispielsweise auf Gendergerechtigkeit oder auf Seenotrettung nicht die Interessen der Wähler zu vertreten – und dadurch auch der AfD zum Aufschwung verholfen zu haben. Wagenknecht trat 1989 der SED bei und war später Mitglied von PDS und Linke. Von 2015 bis 2019 war sie Fraktionsvorsitzende.

In der Lesung in Halle betont Wagenknecht immer wieder soziale Themen. Will etwa von einer Frage nach ihrem eigenen Stress nichts wissen: Eine Pflegerin habe viel größeren Stress – und verdiene viel weniger. Da wolle sie selbst nicht jammern. Auch das gibt viel Applaus. Einem Bericht der "Bild"-Zeitung von Mitte September zufolge gehe es Wagenknecht mit ihrem eigenen Projekt um vier inhaltliche Schwerpunkte: "wirtschaftliche Vernunft", "soziale Gerechtigkeit", "Frieden" und "Freiheit".

"Ich habe sehnlichst darauf gewartet", sagt jetzt eine Frau im Publikum mit dem Mikrofon in der Hand. Eine Frage aber habe sie: "Warum sei der neue Name auf Wagenknecht selbst bezogen?" Das fände sie nicht so gut, sagt die Frau.

Wagenknecht: "Das wird nicht der endgültige Name sein"

Worauf sie anspielt: Ein Verein, der aus dem Umfeld Wagenknechts bereits gegründet wurde und als Vorläufer der Partei dienen soll, wurde unter dem Namen "BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit e.V.“ in das Vereinsregister eingetragen. Bündnis Sahra Wagenknecht. Diesen Verein wird die Politikerin am Montag zusammen mit dem Entwurf eines politischen Programms vorstellen.

Es ist kurz knifflig für Wagenknecht, das sieht man ihr an. "Das wird nicht der endgültige Name sein", sagt sie dann. Sie brauche das nicht für ihre Eitelkeit, aber für eine gewisse Zeit müssten Leute die Partei auch "finden" – "schon allein auf dem Wahlzettel". Für eine Übergangszeit werde der Name deshalb so sein. "Aber nicht auf Dauer, da kann ich Sie beruhigen", sagt Wagenknecht.

Die Frage legt den Finger in die Wunde: Sahra Wagenknecht ist das prominente Gesicht, das Zugpferd. Doch sie braucht auch die anderen. Die von ihr 2019 ins Leben gerufene Bewegung "Aufstehen", die das linke Lager vereinen sollte, zeigte das – das Projekt war krachend gescheitert.

Daraus scheint Wagenknecht gelernt zu haben: Sie entschuldigt sich vor dem Publikum dafür, dass es "so lange" gedauert habe, bis es nun endlich konkret werde. Doch es gehe darum, zunächst Strukturen aufzubauen. "Wenn man es macht, muss man es so machen, dass es ein Erfolg werden kann", sagt sie. "Und das hoffe ich jetzt."