Schlichtung zu Stuttgart 21 Der alte Mann und der Prototyp

Von Julia Rommel, Stuttgart
Eine Aufweichung der verhärteten Fronten hat die erste Stuttgarter Schlichtungsrunde nicht gebracht , einen Sieger gibt es dennoch: den Schlichter selbst. Heiner Geißler ist die richtige Wahl.

Vor dem Stuttgarter Rathaus mitten in der Stadtmitte ist es ruhig. In den Nebenstraßen drängen sich die Fußgänger, bepackt mit Einkaufstüten, Leberkäsewecken und Brezeln in der Hand. Fast sieht der 50er-Jahre-Bau am Marktplatz aus wie an jedem beliebigen Tag. Nur die vielen Kabel, die an der Fassade des hellen Gebäudes herabhängen, die Fernseh-Übertragungswagen in den Seitengängen und die zwei Polizeiwagen vor dem Rathaus deuten daraufhin, dass im Inneren etwas Außergewöhnliches passiert. Die Schlichtungsgespräche über das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 haben begonnen.

Im vierten Stock des Rathauses drängen sich die Fotografen in einem freundlichen, holzvertäfelten Saal. An einem kreisrunden, an einer Seite offenen Tisch haben bereits Gegner und Befürworter Platz genommen. Gleich an der Tür der Flügel der Gegner, daneben die Befürworter. Begleitet von Blitzlichtgewitter nimmt ein faltiger kleiner Mann seinen Platz ein, der Anzug scheint ihm zu groß geworden, am blau-weiß-gestreiften Hemd ist leger der oberste Knopf geöffnet. Es ist Heiner Geißler, der Schlichter. Wer bisher daran gezweifelt hatte, ob mit dem 80-jährigen Politikveteran die richtige Person für eine Schlichtung des Konflikts gefunden ist, wird schon nach wenigen Minuten an diesem Freitagvormittag von seinen Qualitäten überzeugt.

Das Gegenteil von dem, was die Bürger vermuten

Geißlers Ziel, das Ziel der Runde: "Wir wollen das Gegenteil von dem machen, was Bürger bei der Politik immer vermuten, nämlich, dass hinter verschlossenen Türen Politik gemacht wird und Fakten verschwiegen werden", sagt Geißler. Deswegen sollen alle Fakten vor laufender Kamera auf den Tisch und ausgesprochen werden, dokumentiert live auf Phoenix. Der Schlichter hat sich vorgenommen, der Diskussion die emotionale Schärfe zu nehmen. Es solle streng zur Sache gesprochen werden und keine parteipolitischen Auseinandersetzungen geben, mahnt er. Er spricht ruhig und bestimmt, oft begleitet von einem schalkhaften Lächeln, wenn er die Runde zum Beispiel auffordert, keine "Glaubensbekenntnisse und historischen Referate" abzuliefern.

Der CDU-Senior ist entschlossen, die Fakten des umstrittenen Bahnprojekts öffentlich und für alle Bürger verständlich diskutieren zu lassen. Aus Berlin, so Geißler, sei die Frage aufgebracht worden nach der demokratischen Legitimation des Bürgerprotests gegen das Projekt, nachdem es von den Parlamenten doch beschlossen worden sei. "Dennoch kann man sich heute nicht in einer modernen Mediendemokratie nicht mehr nur darauf berufen, dass Projekte rechtsstaatlich legitimiert sind", sagt Geißler. "Grundsätzlich bleibt die Aufgabe, Projekte den Menschen immer wieder zu begründen und zu erläutern." Genau dazu will er mit seinen wöchentlichen Schlichtungsgesprächen zu verschiedenen Spezialthemen des Konflikts beitragen.

Eine Armada von Experten

Sieben Befürworter und sieben Gegner sollten es ursprünglich sein, die ihre Sachargumente austauschen. Stattdessen ist die Runde zu einer wahren Armada aus Experten, Sachverständigen und sonstigen Adjutanten angeschwollen. Jede Seite hat sieben Experten bestimmt, die im Zweifelsfall mit Fachwissen zur Hilfe springen sollen – oder wie im Fall des von den Befürwortern eingeladenen Chefs des Stuttgarter Flughafens Georg Fundel – auch ein wirtschaftliches Gewicht mitbringen. Insgesamt dreißig Leute können sich nun in der Runde zu Wort melden, die Diskussion bestimmen aber einige wenige Redner, wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) oder die baden-württembergische Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU).

Der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus, CDU, und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster dagegen bleiben schweigsam und überlassen ihren Experten das Wort. Mappus, dem nachgesagt wird, sich wenig für Sachdetailfragen zu interessieren, wacht erst auf, als der politische Gegner Boris Palmer, das aufweckende Element in der Runde, beginnt, die Befürworter rhetorisch anzugreifen.

Geißler ist ein strenger Moderator. Als ein Gegner plötzlich das Thema Kopfbahnhof aufbringt, grätscht er dazwischen: "Jetzt sind wir beim Güterverkehr. Können wir mal bei diesem Punkt bleiben?" Weil er aber meist mit einem humorvollen Unterton eingreift, ist die Stimmung zwischen den Konfliktparteien entspannt. "Darf ich mal folgendes sagen: Das versteht außer den Fachleuten kein Mensch", geht er dazwischen, als die Bahn-Fraktion über Kapazitäten von leichten und schweren Güterzügen fachsimpelt. Er fasst kryptische Aussagen von Experten verständlich zusammen, hat keine Probleme damit, sich selbst als Laien zu outen, und lässt die Experten wie Schuljungen ihre Sätze so lange umformulieren, bis alle sie tatsächlich verstehen. Als die Umweltministerin Tanja Gönner anführt, man habe stets kommuniziert, dass die Neubaustrecke im Projekt S21 wenig für den Güterverkehr bringe "und das war immer klar", pariert Geißler knapp: "Ja, für Sie vielleicht" und erntet Lacher.

Vor allem aber behält Geißler den Überblick, wenn die Entgegnung auf einen Vortrag durch einen Zwischenruf und dieser Zwischenruf durch eine erneute Erwiderung gestört wird. "Wir wollen uns doch nicht... verheddern", sagt er dann. Und das geschieht leicht bei dieser Auseinandersetzung, bei der sich Gegner und Befürworter nicht nur mit Zahlenkolonnen, sondern auch mit interaktiven Schaubildern und überladenen Powerpoint-Folien bekriegen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Geißler fühlt sich bestätigt

Mühsam hangeln sich die Konfliktparteien von einem Punkt zum anderen, Geißler hält sie immer wieder zur Disziplin an, beim Thema zu bleiben. Das heißt an diesem ersten Tag: "Leistungsfähigkeit des bestehenden Bahnknotens und des geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof und der angeschlossenen Neubaustrecke Wendlingen-Ulm."

In der Pressekonferenz am Ende des Tages resümiert Geißler. Er fühle sich bestätigt, "dass wir diesen demokratischen Prototyp fortsetzen müssen" trotz fehlender "gemeinsamer Bewertung". Er will sich in den kommenden Gesprächen noch stärker dafür einsetzen, dass die Fachleute ihre Argumente verständlich vortragen. "Denn wir wollen ja, dass der Zuschauer seine eigene Bewertung vornimmt" sagt Geißler und lächelt noch einmal väterlich in die Runde. Er weiß, dass er seine Rolle dabei bisher mustergültig erfüllt hat.