Einen Satz von Norbert Blüm kennt mutmaßlich jeder Deutsche: "Die Rente ist sicher". Der Rüsselsheimer war jedoch viel mehr als der "ewige Arbeitsminister" des "ewigen Kanzlers" Helmut Kohl. Nun ist Norbert Blüm im Alter von 84 Jahren gestorben. Ihn auf diesen Ausspruch zu reduzieren, würde ihm nicht ansatzweise gerecht.
Vier stern-Reporter erinnern sich an persönliche Begegnungen:
Ein später Dank und eine letzte Ehre
Norbert Blüm I.
Im Hungerwinter 1946/47 erhielt die Familie Blüm Care-Pakete eines unbekannten Onkels aus Amerika. 67 Jahre später reiste Norbert Blüm mit seiner Frau Marita in die USA, um diesen Onkel zu finden und sich zu bedanken. Der WDR begleitete ihn dabei mit der Kamera und wir erlebten, wie dieser kleine, dicke Menschenfreund an Haustüren klingelte und mit seinem rührend Rüsselheimerischen Englisch nach dem Oheim suchte: "Hallo, I am Norbert Blüm, I was a Minister for Work in Germany and I want now to find my Ongel." Irgendwann fanden sie entfernte Cousins und Cousinen und das Grab des Wohltäters. Und Norbert Blüm stiegen Tränen in die Augen als er sich vor dessen Grabstein verbeugte. Er legte Blumen nieder und sagte in seinem schönen, weichen, unvergesslichen Norbertblüm-Sound: "Dange, Ongel Heinrich!"
Wenn ich an diese Szene denke, muss ich weinen.
Norbert Blüm II.
Juli 2017. Auf dem Vorempfang zu Helmut Kohls Trauerfeier in Speyer traf ich beide zum letzten Mal: Heiner Geißler, Kohls langjährigen und in Ungnade gefallenen Generalsekretär und Norbert Blüm, Kohls langjährigen und in Ungnade gefallenen Arbeitsminister. Sie standen untergehakt am Rande, zwei Greise über 80, die sich ihrer Endlichkeit in schöner Gelassenheit bewusst waren. "Sie können schon mal die Nachrufe auf uns schreiben", sagte Blüm, "wir sind ja die letzten Mohikaner." Nach ihnen sei dann "die Generation der Bonner Politiker ausgestorben". Das stimmte zwar nicht ganz. Aber noch im selben Jahr starb Geißler und nun ging auch er. Kohl, Geißler, Blüm. Hoffentlich versöhnen sie sich da oben. Kein Zweifel, dafür wird der "Nobbi" schon sorgen.
Der Trickreiche – wie Norbert Blüm mit politischen Gegnern umging

Mit Blüm beim Bier: Klang nach Resopaltisch und alter Bundesrepublik
Von Tilman Gerwien
Machen wir es kurz, damit es gleich raus ist: Ich habe ihn immer gemocht. Das letzte Mal, dass ich ihn sah, ist schon ein paar Jahre her. Rückblickend muss ich sagen: Eigentlich ist es viel zu viele Jahre her. Ich schrieb damals an einem Porträt über Ursula von der Leyen, sie war Familienministerin und mit Elterngeld und Krippenausbau so etwas wie der neue Shooting-Star der durchmodernisierten Merkel-CDU.
Blüm wollte an jenem Tag von Berlin aus zurück in seine rheinische Heimat fliegen und hatte eigentlich keine Zeit. Ich fing ihn ab im Regierungsviertel. Er sagte: "Los, steigen Sie mit ins Taxi!" Schon die Fahrt zum Flughafen Tegel wurde sehr bereichernd. Sie war nicht besonders lang. Aber Norbert Blüm war ja ein Meister der kurzen Sätze. Er sprach über sein Familienbild und das von Ursula von der Leyen, über sein Leben und Leiden mit der CDU. Auch über seine Einsamkeit in der Merkel-Partei, die ja seine Heimat war, ihm aber immer fremder wurde. In Tegel erfuhren wir, dass sein Flug Verspätung hatte.
Für Norbert Blüm war völlig klar, dass man die Wartezeit in der Abflughalle mit sehr vielen "Warsteiner" vom Fass zu überbrücken hatte. Ab dem dritten duzte er mich, natürlich waren wir jetzt nicht befreundet. Es war eher so ein schönes, warmes Betriebsrats-Du, es klang nach Resopaltisch und alter Bundesrepublik, ich konnte verstehen, dass er Sehnsucht hatte. Nach der alten Zeit, und, na klar: Auch nach der Zeit, in der er, der kleine kugelrunde Mann, mal richtig groß gewesen war. Die Zeit, in der "die Rennde" noch "sischer" war. Nach dem vierten Bier ging es nochmal um die "Kopfpauschale", gegen die er gekämpft und erst verloren, dann am Ende aber doch gewonnen hatte.
Beim fünften Bier wurden wir sehr lustig. Ich bitte um Nachsicht, aber an weitere Details kann ich mich nicht erinnern. Dann wurde sein Flug aufgerufen und der kleine runde Mann kugelte davon. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Schade um die vielen Biere, die danach ungetrunken blieben. Er hatte etwas, was nur ganz wenige Politiker haben: Wärme.
Die wandelnde Enzyklopädie der Zeitgeschichte
Von Rolf-Herbert Peters
Es ist gut zehn Jahre her, als ich Blüm das letzte Mal persönlich getroffen habe. Ich besuchte ihn in seinem Bonner Haus. Wenn sich die Holztür öffnete, wurde man von ihm und seiner Frau empfangen wie ein Sohn, der heimkommt. Die blauen Wände und die Bücherregale, die sich über alle Zimmer erstreckten, wirkten vertraut, heimelig. "Was möchten Sie trinken?", fragte Blüm schon auf der Treppe. Ich wollte an diesem Tag mit ihm über Opel sprechen, wo er eine Lehre absolviert hatte. Der Konzern, der sich im freien Fall befand. "Kommen Sie", sagte Blüm und nahm mich mit zu seinem Astra Cabrio. Der Marke ist er treu geblieben. Wir fuhren durch Bonn und dann hinauf auf den Petersberg. Durch seine Erzählungen wurde die Fahrt eine Reise durch die alte Republik. Als wir oben ankamen und den Blick über das grüne Rheintal schweifen ließen, wurde Blüm plötzlich sehr nachdenklich. Er schaute mich an und sagte: "Wir müssen aufpassen, dass wir das alles hier nicht kaputtmachen! Vielleicht ist es schon zu spät." Dann referierte er so emotional über Klimaschutz, wie es Greta bis heute nicht schafft. Er wirkte auf mich ernsthaft besorgt, viel mehr, als die Regierenden. Später haben wir ab und zu telefoniert. Es war eine wandelnde Enzyklopädie der Zeitgeschichte. Ich habe noch immer sein Handynummer. Ein komisches Gefühl, ihn nicht mehr anrufen zu können.