SPD-Parteitag Die unglückliche Partei

  • von Jens König
Und nun? Ist die SPD wieder neu und schön und attraktiv? Nö. Sie ist immer noch eine unglückliche Partei. Sie leidet immer noch an sich selbst. Sie weiß immer noch nicht, wofür sie da ist. Sie hat ihre Identität verloren. Daran hat der Parteitag in Dresden nichts geändert. Wie sollte er auch!?

Darin lag ja eines der größten sozialdemokratischen Missverständnisse der letzten Jahre: Dass die SPD sich in immer kürzeren Abständen neue Vorsitzende wählte und stets aufs Neue glaubte, der neue Chef werde sie aus ihrem Elend schon erlösen. Keiner hat sie erlöst, Schröder nicht, Müntefering nicht, Platzeck nicht, Beck nicht, Steinmeier nicht. Doch erst der Wähler, der die SPD in die Opposition verbannte, hat den Genossen zu der brutalen Einsicht verholfen, dass nicht allein ihre Führung das Problem ist, sondern die Partei selbst. Sie ist einfach nicht mehr von dieser Welt.

In Dresden hat sich diese Einsicht kollektiv Bahn gebrochen. Der Parteitag war ein Ort der Trauer. Und er war zugleich die erste Therapiesitzung, um diese Trauer zu überwinden. Die Genossen sprachen zum ersten Mal selbst aus, was seit Jahren in jeder besseren Abhandlung über den Zustand der SPD zu lesen war: Dass die innerparteiliche Kultur verroht ist, die Partei Millionen ihrer Traditionswähler vor den Kopf gestoßen hat, sie dem neoliberalen Zeitgeist verfallen war. Hartz IV, Rente mit 67, Afghanistan, Kinderarmut, der Putsch vom Schwielowsee, das kollektive Abnicken umstrittener Beschlüsse auf Parteitagen - schier jedes Thema wurde voller Leidenschaft und Wut diskutiert. Dieses Aufreißen der Wunden, diese schmerzhafte Beschäftigung mit sich selbst ist für die Sozialdemokraten angesichts ihrer existentiellen Krise notwendig - für Beobachter und Wähler jedoch ist das auf Dauer ermüdend und unattraktiv. Ja, es hat sogar etwas Peinliches. Man besucht halt nicht gern eine fremde Familienfeier, auf der jahrelang angestaute Probleme explodieren.

Den substantiellsten Beitrag in dieser Krisendebatte lieferte ohne Zweifel Sigmar Gabriel. Seine fast zweistündige Rede war originell, intelligent, rhetorisch brillant. Er ging mit der Partei schonungslos ins Gericht, ließ ihr gleichzeitig jedoch ihren Stolz und vermittelte trotz der deprimierenden Lage ein Gefühl der Hoffnung. Den Hauptgrund für den Absturz seiner Partei sieht er darin, dass sie die politische Mitte als statisches Gebilde verstanden habe, dem sie sich anpasste, um Wahlen zu gewinnen. Gabriel hingegen definiert "Mitte" als einen Kampfplatz, auf dem die SPD die Deutungshoheit über die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zurück gewinnen muss. Welche Herausforderungen das sind und wie seine Partei diese beantworten will - das sagte Gabriel nicht. Er machte mit seiner Analyse aber immerhin deutlich, dass ein "Linksruck" der SPD nicht nur die falsche Antwort wäre, sondern auch eine Verharmlosung der Aufgabe, vor der die Partei steht.

Die Delegierten reagierten auf diesen außergewöhnlichen Auftritt mit einer Übersprungshandlung: Sie wählten Sigmar Gabriel mit honeckerwürdigen 94,2 Prozent zum neuen SPD-Vorsitzenden. Als würden sie nach nur einer einzigen Rede in Gabriel schon wieder ihren Retter erkennen.

Der Neuaufbau wird nicht einfach

Die Partei und ihr neuer Vorsitzender machen sich etwas vor, wenn sie glauben, sie müssten nur ein paar Monate offen diskutieren, anschließend die Partei innerhalb von zwei Jahren reorganisieren, um dann 2013 den Kampf um die Macht im Land wieder frisch und frech aufnehmen zu können. So einfach wird´s nicht gehen. Der Neuaufbau einer demoralisierten, geschrumpften und geschlagenen Volkspartei in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft ist ein riesiger Kraftakt. Nach dem letzten Gang in die Opposition 1982 brauchte die SPD geschlagene 16 Jahre, um zurückzukommen. Niemand kann sagen, ob es diesmal nicht ähnlich lange dauert. Und niemand kann garantieren, dass 23 Prozent schon das Ende auf dem sozialdemokratischen Weg nach unten sind. Die französischen Sozialisten haben sich in der Hinsicht große Illusionen gemacht. Heute stehen sie bei 16 Prozent.

Auch bei Gabriel sind noch Züge alter Hybris zu erkennen. In seiner Rede träumte er sich die SPD schon wieder so stark, dass andere Parteien sich ändern müssten, "damit sie mit uns regieren dürfen". Mal sehen, wann die kleine SPD wieder ran darf. Der neue Parteichef Gabriel lernt gerade erst, was es heißt, keine disziplinierten Regierungspartei im Wartestand, sondern eine Oppositionspartei mit großer Sehnsucht nach Debatte zu allem und jedem zu führen. Der Parteitag stimmte mit riesiger Mehrheit für die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer - die neue SPD-Führung hatte diese Forderung in ihrem Leitantrag hinter dem Wunsch nach einer "umfassenden Steuerreform" verstecken wollen.

Die SPD besitzt in Sigmar Gabriel, Generalsekretärin Andrea Nahles und Fraktionchef Frank-Walter Steinmeier eine neue Troika an ihrer Spitze. Sie schlägt einen neuen, diskursiven Ton in der innerparteilichen Debatte an. Sie plant, über Urabstimmungen und ähnliche Formen demokratischer Mitbestimmung ihre Mitglieder wieder mehr in Verantwortung zu nehmen. Das ist nicht wenig. Aber noch nicht viel. Der Aufbruch der SPD beginnt gerade erst. Ihre Zukunft ist offen.