Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steckt beim umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 nach Ansicht des Bonner Politikwissenschaftlers Gerd Langguth in einem Dilemma. "Frau Merkel will zeigen, dass sie keine Kanzlerin der Beliebigkeit ist, dass sie Ecken und Kanten hat. Sie ist deshalb bereit, auch Unpopuläres zu tragen", sagte das frühere CDU-Vorstandsmitglied in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa in Berlin. "Das vor 15 Jahren begonnene Projekt kann kaum noch rückgängig gemacht werden - zum Preis fehlender Bürgernähe." Tausende protestieren in Stuttgart seit mehreren Wochen gegen das Bahnhofsprojekt.
Die CDU-Vorsitzende hält nach Einschätzung des Politikexperten auch aus Parteiinteressen an Stuttgart 21 fest. "Frau Merkel hat ein Problem: Wenn sie sich nicht aktiv hinter das Projekt und die CDU Baden-Württemberg stellt, würde ihr im Falle eines Regierungsverlustes bei der Landtagswahl im März mangelnde Unterstützung vorgeworfen werden", sagte der Merkel-Biograf. Die CDU unter Ministerpräsident Stefan Mappus kam in einer Umfrage des Instituts TNS Forschung für das Nachrichtenmagazin "Spiegel" auf 34 Prozent (2006: 44,2), die Grünen auf 32 Prozent (2006: 11,7).
Die Stuttgarter Proteste sind für den Politologen Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik. "Der Protest gegen finanziell unkalkulierbare Großprojekte unter dem Eindruck wachsender sozialer Ungerechtigkeit kommt zum großen Teil aus der Mitte der Gesellschaft, auch von bisherigen Unionswählern", sagte Langguth. "Zudem verstärken konservative Veränderungsängste in allen Teilen und Schichten der Bevölkerung die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten."