8.15 Uhr: Taucher in der Spree
Es ist kalt. Und es ist nass. Die Straßen in Berlin Mitte sind glatt, auf den Bürgersteigen kann man nur laufen, wenn ein gütiger Hausmeister Sand gestreut hat. Es regnet. Eigentlich ist das kein Tag für eine Beerdigung. Rund um den Berliner Dom sind überall Polizisten, Absperrungen, auch auf der anderen Seite der Spree patrouillieren Polizisten mit ihren Schäferhunden. Am Spreeufer, direkt an der Rückseite des Doms, steht ein Taucher in einem dicken, roten Gummianzug. Er hat ein Seil umgebunden. Gleich wird er in die Spree springen müssen, auf deren Oberfläche Eisschollen schwimmen. Trist ist das.
8.25 Uhr: Der einsame Katafalk
Wir sind drinnen, im Dom, nach einer genauen Leibesvisitation und dem Schritt durch den Metalldetektor. Auch hier sind überall Sicherheitsleute, Polizisten. Aber anders als draußen tragen fast alle Schwarz. Die Kleiderordnung gilt auch für sie. Wir sind viel zu früh da. Zwischen sieben und neundreißig, hatte es geheißen, lasse man akkreditierte Journalisten in die Kirche. Ein Staatsakt, hatten wir gedacht, da stehen alle früh auf. Auch die Kollegen. Pustekuchen. Nur zwei andere sind so überpünktlich wie wir. Dafür ist unser Platz luxuriös. Wir sitzen in "Loge M" des Doms, also im ersten Stock der Kirche, gleich links neben der berühmten Kaiser-Loge mit ihrem prachtvollen Treppenhaus, das dem Kaiser die Begegnung mit dem gemeinen Volk ersparte. Drei Holzbänke stehen hier, rechts und links eingerahmt von Scheinwerfern des ZDF, die kaltes Licht ins Kirchenschiff werfen. Dort unten herrscht stille Betriebsamkeit. Auch hier sind Sicherheitsleute, und die Helfer vom Protokoll. Sie verteilen Programmzettel, überprüfen die Sitze. Die Gäste - 1500 sollen es werden - kommen erst später, ab halb zehn. Auch Johannes Raus Sarg ist schon im Dom. Der Katafalk steht vorne, vor dem Altar, umhüllt von einer schwarz-rot-goldenen Flagge mit Adler. Links und rechts davon stehen zwei aufgestelzte Polster, auf denen die zwei wichtigsten Orden Johannes Raus ruhen: Auf dem linken Polster der Große Verdienstorden am Band, rechts die Auszeichnung mit dem bescheidenen Namen "NRW-Orden". Umrahmt wird das Arrangement von crème-weißen Rosen, Lilien in der gleichen Farbe und etwas Schleierkraut. Inmitten der Vorbereitung findet der Sarg kaum Beachtung. Fast ein wenig alleine wirkt er, verloren. Wir warten. Das offizielle Programm soll erst um elf beginnen.
8.35 Uhr: Die Polizistin im Flanell-Outfit
Im Kirchenschiff regt sich etwas. Die Knaben des Staats- und Domchors singen sich warm, im Gestühl gleich rechts neben dem Altar. Auch sie tragen schwarze Anzüge und weiße Hemden. Nur die weithin sichtbaren Namens-Schildchen stören noch etwas - später werden sie sie abnehmen. Sie singen "Misericordias Domini". Helle Stimmen sind das, zarte Stimmen. Die Musik legt schon jetzt einen Hauch von Feierlichkeit über die Szenerie. Auf uns, oben auf der Empore, passt jetzt eine junge Polizisten im schicken, grauen Flanell-Hosenanzug auf. Sie berlinert.
8.45 Uhr: Wenn eine Ehrenformation übt
Etwas weniger feierlich als der Kabengesang mutet an, wie das Ehrenbataillon der Bundeswehr - offiziell: das "Wachbataillon beim Bundesministerium der Verteidigung" - das Sarg-Anheben übt. Vier Soldaten links, vier rechts, jeweils zwei mit Stahlhelm, zwei mit Schirmkappe, heben den Sarg an. Probeweise. Nachher, am Ende der Zeremonie soll allles elegant aussehen. Uns, denken wir, wäre an Stelle der Soldaten ernsthaft bange vor einem Missgeschick, vor einem Abgleiten des Sargs etwa. Peinlich wäre das, wie in einer Satire. Auch diesen Jungs muss es ähnlich gehen. Jetzt vergewissern sich noch einmal, dass sie den Katafalk auch richtig greifen können. Dann watscheln sie im würdevoll-komischen Wiegeschritt den Gang des Kirchenschiffs hinunter - ohne Sarg. Eine junge Frau vom Protokoll zupft die Fahne zurecht. Sie muss faltenfrei sein. Es werden viele Menschen zusehen später.
9.30 Uhr: Wer kommt wann? Wer sitzt wo?
Die Journalisten sind nun vollzählig in "Loge M" untergebracht, aus dem Weg geräumt. Ab jetzt dürfen auch die Gäste kommen, die 1500. Es wird spannend. Wer kommt wann? Wer sitzt wo? Wer sitzt bei wem? Es gibt unzählige Sitzgelegenheiten im Dom. Bankreihen. Stühle. Interessant sind jedoch vor allem vier Bank-Blöcke im Kirchenschiff: vorne links, vorne rechts, hinten links, und hinten rechts. Dort sitzt die Prominenz, das politische Berlin, das an diesem Tag vollständig hier versammelt sein wird, vom Hinterbänkler bis zum Bundespräsidenten. Es geht um einen Staatsakt, da darf niemand fehlen. (Dabei fragen wir uns, ob es wohl für Wähler eine Rolle spielt, ob ihr Abgeordneter bei so einem Ereignis vor Ort ist, ihr Vertreter. Prüfen die Bürger so etwas am Bildschirm? Wir versichern uns, dass unser Abgeordneter seinen Platz gefunden hat.) Anfangs tröpfeln die Gäste nur hinein, es läuft zäh, aber dann, als es voller wird, lassen sich doch interessante Konstellationen beobachten. So fallen die Grünen wie immer dadurch auf, dass ihr Spitzenpersonal im Rudel auftritt, in Form der doppelten Doppelspitze von Partei und Fraktion: Claudia Roth sitzt neben Fritz Kuhn und Renate Künast im Block vorne rechts, fünfte Reihe. Reinhard Bütikofer kommt etwas später. Zum grünen Führungs-Rudel gesellt sich SPD-Fraktionschef Peter Struck, auch die Partei- und Fraktionschefs der FDP kommen dazu, Guido Westerwelle und Wolfgang Gerhardt. Von der PDS ist zwar Gregor Gysi dabei, aber wo ist Oskar Lafontaine? Wir fangen wieder an zu sinnieren. Durfte Lafontaine nicht kommen? Hat ihn jemand ausgeladen? Wollte er nicht kommen? Aber andererseits hat er sich doch lange gut verstanden mit Johannes Rau. Man weiß es nicht. CDU-Fraktionschef Wolfgang Kauder ist in der Kirche, recht früh sogar, hält sich aber nicht an die Ordnung, nach der er eigentlich bei den anderen Fraktionschefs sitzen müsste. Gemeinsam mit CSU-Mann Peter Ramsauer bevorzugt er eine Bank hinten rechts. Wer das nun als Spaltung der großen Koalition interpretieren möchte, der hat weit gefehlt, denn für deren fruchtbares Erblühen gibt es andere Hinweise. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Olaf Scholz, sitzt, zwei oder drei Reihen hinter Kauder, einträchtig neben seinem CDU-Kollegen Norbert Röttgen. Im politischen Alltagsgeschäft sind die beiden so etwas wie das Maschinisten-Team der großen Koalition, Arm in Arm, Seit' an Seit'. Auch jetzt sehen die beiden aus wie enge Freunde. Es fehlt nur noch, dass sie Händchen halten. Zumindest im Maschinenraum der Regierung ist alles in Ordnung, Platzeck hin, Merkel her.
10.35 Uhr: Wenn Stoiber pünktlich ist
Edmund Stoiber eilt den Gang hinauf und setzt sich in den Block vorne links, dorthin wo die Staatsorgane, die Ex-Staatsorgane, das Kabinett und die Ministerpräsidenten platziert worden sind. Ein Kollege ätzt, dies sei wohl das erste Mal, dass Stoiber zu einem Termin bei Rau pünktlich erschienen sei. Rau, der Bundespräsident, berichtet er, habe sich früher immer mächtig über die notorischen Verspätungen des bayerischen Landesfürsten geärgert, sie sogar als Affront empfunden. Tempi Passati. Vielleicht ist Stoibers ungewöhnliche Pünktlichkeit heute eine besondere Form der Ehrerbietung.
10.45 Der Ex-Kanzler übersieht Schröder
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder nebst Gattin Doris Schröder-Köpf kommt an. Sie setzen sich in die zweite Reihe vorne links. Eigentlich wirkt es so, als würde Schröders Präsenz kaum Aufmerksamkeit erregen. Erstaunlich ist das schon, wenn man bedenkt, wie sehr der Niedersachse dieses politische Berlin im vergangenen Jahr noch bewegt hat. Als kurze Zeit später Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt sich in die gleiche Reihe setzen will, steht Schröder auf, um ihn zu begrüßen. Versehen oder Absicht - Schmidt würdigt den Nachfolger keines Blickes. Einen Moment bleibt der noch etwas irritiert stehen, bevor er sich wieder setzt. Helmut Kohl, das ist erstaunlich, lässt sich an diesem Tag gar nicht blicken, zumindest nicht in den vorderen Reihen - oder hat er vielleicht gar ganz woanders Platz genommen, ganz hinten? Weiter hinten, im ersten Block rechts, ist derweil ein anderes SPD-Fossil aus dem Schröderschen Zeitalter zu bestaunen: Rudolf Scharping höchstdieroselbst. Erstaunlich dabei: Scharping, Ex-SPD-Chef, Ex-Kanzlerkandidat, Ex-Verteidigungsminister, Ex-Abgeordneter hat sich einen typfernen Bohème-Look zugelegt. Er hat das spärliche Haar länger wachsen lassen, eine richtige Mähne ist das, und es sieht so aus - auch wenn man sich nicht ganz sicher sein kann - als trüge er sogar einen schwarzen Rollkragen-Pullover unter dem Sakko. (Spätere Recherchen haben dann ergeben, dass Scharping keinen Rolli trug). Aber Rolli oder nicht: Ein wenig erinnert Scharping an einen Dichter, einen alternden Musiker, einen Theatermann, an Götz Georges Figur Uhu Zigeuner in "Rossini oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief." Eigentlich erstaunlich, wie viel bundesrepublikanische Geschichte in diesen wenigen Bänken versammelt ist. Vielleicht ist auch Scharping froh, dass Lafontaine nicht da ist. Memento Mannheim: "Vieles, Oskar, hat sehr weg getan."
10.57 Uhr: Der Einzug der Verfassungsorgane
10.57 Uhr Pünktlich, wie es im Protokoll steht, ziehen die Vertreter der Verfassungsorgane ein, allen voran Regierungschefin Angela Merkel. Kurze Zeit später folgen Bundespräsident Horst Köhler, Christina Rau, die Witwe des Verstorbenen, die Kinder.
11.29 Uhr: Politiker und Christ Johannes Rau
Vor dem Staatsakt feiert Bischof Wolfgang Huber einen evangelischen Trauergottesdienst. In seiner Predigt spricht der Bischof viel über Raus klares Bekenntnis zur Religion. "Rau war als Christ Politiker und als Politiker Christ", sagt Huber. Es ist eine gute, eine bewegende Predigt, sehr persönlich, die sich an Psalm 119, 133 orientiert: "Lass meinen Gang in deinem Wort fest sein und lass kein Unrecht über mich herrschen", heißt es dort. Nachdem Hubert geendet hat, singt die Gemeinde: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag." Auch das bewegt.
11.48 Uhr: Leb' wohl, Johannes
Der Gottesdienst ist zu Ende, der Staatsakt beginnt. Erst sieht es so aus, als wüsste Bundespräsident Horst Köhler gar nicht, dass er nun dran ist. Aber dann erhebt sich das Staatsoberhaupt, verneigt sich vor dem Sarg und geht zu dem Pult, das der Bundesadler ziert. Köhler spricht über Raus Heimatstadt Wuppertal, über dessen Jugend, dessen Erfahrungen im Nationalsozialismus. Und er spricht über die Leistungen, die Erfolge des Politikers - als Bürgermeister, als Ministerpräsident, als Bundespräsident. "Johannes Rau hatte stets das ganze Land im Sinn", sagt der Nachfolger irgendwann. Und er erzählt davon, wie Rau einmal einem Journalisten anvertraut hat, wie er gerne in Erinnerung bleiben würde. "Er hat die Menschen gemocht - und sie haben die Zuneigung erwidert", diese Aussage soll Rau sich als sein Vermächtnis gewünscht haben. "So ist es gekommen", sagt Horst Köhler. Nach ihm ergreift der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer das Wort. Der Sozialdemokrat bezeichnet Rau als Freund, preist ihn als jemand, der versöhnen, aber nicht hassen konnte. Die Rede ist wärmer als die Köhlers. Richtig warm ums Herz wird einem aber erst bei den Worten des letzten Redners, des SPD-Weggefährten Hans-Jochen Vogel. Der war einst als Oberlehrer verschrien, nimmt aber schon lange die Rolle eines Elder Statesman ein. Auch an diesem Tag beeindruckt Vogel mit einer kurzen Ansprache mit schlichten, klaren Worten. Er biedert sich Rau nicht an, vermeidet Kitsch, und lässt dennoch seine Wertschätzung des verstorbenen Freundes klar erkennen. Als "nicht anbiedernd oder kumpelhaft, und schon gar nicht herablassend" beschreibt Vogel den Ex-Präsidenten, als jemanden, den das Motto der Bekennenden Kirche geprägt habe: "Ich halte stand, weil ich gehalten werde." Vogel, der Moralist, zollt Rau, dem Standhaften, Respekt. Es sind die persönliche Erfahrungen der Schrecken des Nationalsozialismus und das tief empfundene "Nie mehr wieder!", das die Nachkriegspolitiker Vogel und Rau geleitet hat, die hier nachklingen. Die Abschiedsworte sind bewegend: "Leb’ wohl, Johannes. Du wirst mir stets gegenwärtig sein", sagt Vogel.
12.49 Uhr: Alles geht gut
Der Staatsakt ist beendet, für das Wachbataillon beginnt der Ernstfall. Die Soldaten watscheln den Kirchengang hinunter, drehen sich und nehmen den Sarg auf. Alles geht gut. Dann setzen sie sich wieder in Bewegung. Bei jedem ihrer Schritte hört man das leise Klackern der Stiefel auf dem Boden. Der Bundespräsident, die Witwe, die Trauergemeinde, sie alle folgen dem Sarg langsam nach draußen. Drinnen hören wir wie die Nationalhymne erklingt. Johannes Rau tritt jetzt seinen letzten Weg an, durch Berlin-Mitte, bis zum Dortheenstädtischen Friedhof. In der Loge des Berliner Doms ist es kalt geworden.