Es gibt ein neues Kapitel im Verfassungsschutzbericht – eine neue Bedrohung für unsere Demokratie. "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ist die etwas sperrige Bezeichnung des Abschnitts. Sie meint: die zunehmende Radikalisierung der Proteste gegen die Coronavirus-Schutzmaßnahmen. Sie gipfelte im vergangenen September in der Ermordung eines 20-jährigen Tankstellen-Mitarbeiters in Idar-Oberstein.
Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) machten bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2021 in Berlin deutlich, dass es Teilen der Bewegung um deutlich mehr geht als um die Ablehnung von Maskenpflicht, Abstandsregeln und Co. "Der Staat und seine Institutionen wurden in ihrer Legitimität infrage gestellt", sagte Faeser. Es sei damit die Aufgabe des Verfassungsschutzes, auch diese Szene in den Blick zu nehmen, ergänzte Haldenwang.
Verfassungsschutz warnt vor radikalen "Querdenkern"
Eine Zuordnung der selbsternannten "Querdenker" zu den etablierten Phänomenbereichen Rechts- oder Linksextremismus sei nur schwer möglich, betonten beide. Zu diffus seien die Strukturen, die handelnden Personen und ihre Ziele. So werde die Bewegung beispielsweise in Sachsen von Rechtsextremisten geprägt, in Süddeutschland dagegen seien etwa Esoteriker tonangebend, auch "Reichsbürger", "Selbstverwalter" und Antisemiten mischen in verschiedenen Regionen mit. Dazu, wie groß die Szene "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ist, gibt es noch keine Einschätzung.

Doch einem Teil ihren Protagnisten sei gemein, dass sich "eine fundamentale Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und ihrer Institutionen" entwickelt habe, heißt es im Bericht des Inlandsgeheimdienstes. "Die Angehörigen des Phänomenbereichs versuchen, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, in staatliche Institutionen sowie in Wissenschaft und Medien zu untergraben. Sie zielen dabei auf die Radikalisierung und Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung, um ihre eigene Agenda voranzubringen."
Haldenwang betonte: "Unser Interesse gilt nicht einer kritischen Haltung von Protestteilnehmern gegenüber den Bundes- und Landesregierungen, sondern den Gewaltaufrufen und Angriffen auf unsere Demokratie."
"Come Impf And Find Out": 150 Marken ändern ihre Slogans für Impfkampagne – das sind die 20 besten

Denn die Proteste gegen die Coronavirus-Schutzmaßnahmen haben sich nach Beobachtung des Verfassungsschutzes im vergangenen Jahr immer weiter radikalisiert. So seien Demonstrationen immer konfrontativer geworden. Auseinandersetzungen mit der Polizei seien von der Szene als Beleg für einen "rigoros agierenden Unrechtsstaat" gewertet und Demonstrationsverbote bewusst missachtet worden. Als einer der propagandistischen "Höhepunkte" der "Querdenken"-Bewegung gilt die zeitweise Besetzung der Treppen des Reichstagsgebäudes in Berlin am 29. August.
Klimapolitik neues Protestziel?
Besonders bedrohlich: Immer wieder wurden im Zuge der Corona-Proteste (Lokal-)Politiker, Wissenschaftlerinnen, Polizisten oder Journalistinnen sogar mit dem Tod bedroht oder gar an ihrem Wohnhaus aufgesucht. "Diesen Vorhaben liegt offenbar nicht allein der Wille zur Protestäußerung zugrunde; sie können vielmehr als gezielter Versuch der Einschüchterung verstanden werden", so der Verfassungsschutz. Desinformationen, Aufrufe zur Gewalt und zum Umsturz der bestehenden politischen Ordnung sind in der Szene an der Tagesordnung, insbesondere Messengerdienste und soziale Netzwerke spielen hierbei eine besondere Rolle.
Dass die "Querdenken"-Bewegung sich mit dem möglichen Ende der Coronavirus-Pandemie ebenfalls am Ende sein wird, glaubt Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang nicht. "Denn das extremistische Personenpotenzial in diesem neuen Phänomenbereich ist thematisch flexibel und wird sich nach der Corona-Pandemie neuen anschlussfähigen Themen zuwenden." Als Beispiel nannte er die Klimapolitik der Bundesregierung, die zu neuen Protesten dieser Szene führen könnte.
Quellen: Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesministerium des Innern und für Heimat, Nachrichtenagenturen DPA und AFP