Vertrauensfrage Schröder stürzt den Kanzler

Der Bundestag hat Kanzler Gerhard Schröder das Vertrauen entzogen. Bei der Abstimmung verfehlte er die notwendige Kanzler-Mehrheit von 301 Stimmen. Überraschend viele Parlamentarier stimmten für den Kanzler.

Die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses des Bundestages über die Vertrauensfrage von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) dauerte am Freitag nur etwas mehr als eine Minute: Um 12.11 Uhr trat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) an das Rednerpult und teilte das Ergebnis der namentlichen Abstimmung mit: Von 595 abgegebenen Stimmen hätten 151 mit "Ja" gestimmt und 296 mit "Nein". Enthalten hätten sich 148 Parlamentarier. Der Antrag des Bundeskanzlers habe damit die erforderliche Mehrheit von mindestens 301 Ja-Stimmen nicht erreicht, sagte Thierse knapp: "Ich stelle fest, dass damit die Vertrauensfrage nicht erfolgreich beendet worden ist." Der Bundestag hat derzeit 600 Abgeordnete, da ein SPD-Parlamentarier Ende Juni sein Mandat niederlegte, das noch nicht nachbesetzt wurde.

Gemäß Artikel 39 des Grundgesetzes endet die Wahlperiode auch bei Neuwahlen erst mit Zusammentreten des neu gewählten Bundestages. Thierse berief daher die nächste Sitzung des Bundestages ein auf Mittwoch, den 7. September, 09.00 Uhr. "Die Sitzung ist geschlossen", sagte Thierse nach nur einer Minute und zehn Sekunden.

Rund die Hälfte der Abgeordneten von SPD und Grünen hat Schröder gegen seine Absicht das Vertrauen ausgesprochen, die andere Hälfte enthielt sich der Stimme. In der Abstimmung votierten 151 Abgeordnete der rot-grünen Koalition für Schröders Vertrauensantrag, 148 enthielten sich. Damit kamen alle Ja-Stimmen und Enthaltungen aus dem Lager der Koalition, die Opposition aus Union und FDP stimmte geschlossen mit Nein.

Von den 296 Nein-Stimmen zu Schröders Antrag kamen 246 von CDU und CSU, 47 von der FDP und drei von den fraktionslosen Abgeordneten. Schröder, die Minister und führende Abgeordnete der Koalition enthielten sich entsprechend ihrer Ankündigung der Stimme. Die als "Einladung" bezeichnete Empfehlung von SPD-Chef Franz Müntefering, sich ebenso zu verhalten, war bei den Grünen und Teilen der SPD auf Kritik gestoßen. Bei den Grünen stimmten 46 Abgeordnete mit Ja, acht enthielten sich. In der SPD gab es 105 Ja-Stimmen und 140 Enthaltungen.

Die Ja-Stimmen der SPD lassen sich nicht eindeutig einem Flügel zuordnen. Darunter befinden sich zahlreiche Vertreter des linken Flügels, aber auch Mitglieder aus anderen Gruppen. Mit Ja stimmten unter anderem die stellvertretende Fraktionschefin Gudrun Schaich-Walch und Ex-Arbeitsminister Walter Riester. Der Abgeordnete Rudolf Bindig, der das Vorgehen Schröders in einer schriftlichen Erklärung scharf kritisierte, und die Abgeordnete Jelena Hoffmann, die eine Klage gegen die mögliche Auflösung des Bundestags erwägt, stimmten ebenfalls mit Ja.

Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz, der das Vorgehen Schröders in einer Rede als absurd geißelte und eine Verfassungsklage ankündigte, gab seine Stimme nicht ab. Die drei Minister der Partei und Parteichefin Claudia Roth enthielten sich der Stimme, die beiden Fraktionsvorsitzenden Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt stimmten mit Ja.

Ende eines wochenlangen Hickhacks

Schröders Scheitern im Parlament beendet voerst das Hickhack um die Frage, wie der Kanzler Neuwahlen herbeiführen kann, ohne die Vorgaben des Grundgesetzes zu verletzen. Den mittlerweile von fast allen Beteiligten heiß herbei gesehnten Neuwahlen ist das "politische Berlin" so einen Schritt näher gekommen. Nicht nur Verfassungsrechtler hatten Zweifel daran geäußert, ob es Schröder wirklich an einer Mehrheit im Bundestag fehle, wie es das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verlangt. Auch bei einigen Abgeordneten der Fraktionen von SPD und Grünen war der Kanzler auf erbitterten Widerstand gestoßen. Angesichts derzeitiger Umfragen müssen viele rot-grüne Parlamentarier um ihren Wiedereinzug in das Parlament bangen. In dem Streit um die Vertrauensfrage war auch Bundespräsident Horst Köhler vor allem von SPD-Linken heftig attackiert worden. Nun ist Köhler am Zug - und bald vermutlich auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Fünfte Vertrauensfrage in der Geschichte der Bundesrepublik

Mit der Abstimmung an diesem Freitag ist die Vertrauensfragen in der Geschichte der Bundesrepublik nunmehr zum fünften Mal gestellt worden. 1972 ließ der Sozialdemokrat Willy Brandt das Votum absichtlich scheitern, um bei der nachfolgenden Bundestagswahl eine größere Mehrheit im Bundestag zu erzielen. Zehn Jahre später, im Februar 1982, wurde sein Genosse Helmut Schmidt per konstruktivem Misstrauensvotum gestürzt. Im November des gleichen Jahres organisierte der Christdemokrat Helmut Kohl ein Scheitern der Vertrauensfrage, um, wie Brandt, seine Mehrheit im Parlament aufzubessern. Im November 2001 nutzte Gerhard Schröder die Vertrauensfrage dazu, um die rot-grüne Koalition zu disziplinieren. Er verband die Frage mit einer Abstimmung über den Einsatz der Bundeswehr im Anti-Terror-Einsatz. Damals sprachen ihm die Abgeordneten das Vertrauen aus.

Schröder will Köhler am Freitag um die Auflösung des Parlaments bitten

Im Bundestag sitzen insgesamt 604 Abgeordnete, SPD (249) und Grüne (55) kommen insgesamt auf 304 Mandate, die Union hat 247, die FDP 47 Abgeordnete. Es gibt drei fraktionslose Parlamentarier, zwei von der PDS und den Ex-CDU-Vertreter Martin Hohmann.Schröder will noch am Freitag bei Bundespräsident Horst Köhler die Auflösung des Bundestags beantragen. Dieser hat dann 21 Tage Zeit, Schröders Bitte zu entsprechen. Bis zum 22. Juli muss er sich nun entscheiden. Spricht sich Köhler für Neuwahlen aus, muss binnen 60 Tagen nach seiner Entscheidung gewählt werden. Als wahrscheinlicher Termin gilt der 18. September.

SPD hat nur noch Außenseiter-Chancen

Für die SPD wird es ein Wahlkampf, in der ihr eigentlich nicht einmal mehr Außenseiter-Chancen gegeben werden. In der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungs-Instituts Forsa erzielten die Genossen gerade einmal 26 Prozent der Stimmen, die Grünen erhielten sieben Prozent. Demnach könnte ein schwarz-gelbes Bündnis mit einer satten Mehrheit von 53 Prozent rechnen. Laut Umfrage erhielte die Union derzeit 47 Prozent, die FDP sechs Prozent. Das Linksbündnis von PDS und WASG käme derzeit auf elf Prozent. In den vergangenen Wochen hatte die SPD begonnen, ihr Heil in einem Kurswechsel nach links zu suchen. Am kommenden Montag soll auf einem kleinen Parteitag in Berlin das Wahlmanifest vorgestellt werden. Darin enthalten wird auf jedenfall eine "Reichensteuer" sein - als Motivationsspritze für arg gebeutelte SPD-Wahlkämpfer.

Vuk/Güss

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