Militärhilfe für Ukraine Warum der Kanzler keine Taurus-Marschflugkörper liefern will

Spanien, Granada: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nimmt am Morgen an der Arbeitssitzung des Informellen EU-Gipfels teil
Spanien, Granada: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nimmt am Morgen an der Arbeitssitzung des Informellen EU-Gipfels teil
© Kay Nietfeld / DPA
Deutschland wird vorerst keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Warum eigentlich nicht?

Olaf Scholz hält nichts von einer Romantisierung der Politik. Wo andere Politiker große Gefühle wie Freundschaft beschwören, bleibt der Kanzler nüchtern bis spröde. Als im Januar in Paris unter großem Pomp 60 Jahre deutsch-französische Freundschaft gefeiert wurde, sprach Scholz von einer gut funktionierenden "Kompromissmaschine".

Auch Vertrauen ist keine Kategorie für den Kanzler. Das ist wichtig, wenn es darum geht, dass Deutschland bisher keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern will.

Niemals würde Scholz wohl eine wichtige politische Entscheidung davon abhängig machen, ob er jemandem traut oder nicht. Er hält sich lieber an die Fakten, so jedenfalls die Erzählung seiner Leute.

Taurus könnten bis nach Moskau fliegen 

Taurus steht für Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System. Es ist eine Luft-Boden-Waffe, die auf bis zu 500 Kilometern ihr Ziel präzise erreichen und dabei sogar Bunkeranlagen durchbrechen kann.

Moskau liegt rund 500 Kilometer von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt. Folglich könnte Taurus also nicht nur zur Verteidigung der Ukraine, sondern sogar zum Angriff auf den Kreml eingesetzt werden.

Um sicherzustellen, dass die Marschflugkörper nicht falsch oder absichtlich falsch programmiert werden, wäre - so die Sicht des Kanzleramts - wohl deutsches Personal erforderlich. Allerdings liefe Deutschland, so die Überzeugung des Kanzlers, damit Gefahr, Kriegspartei zu werden. Dies ist laut Völkerrecht der Fall, wenn deutsche Soldaten unmittelbar in die Kampfhandlungen eintreten. Reine Waffenlieferungen fallen nicht unter diese Definition.

Nun ist es mit der Auslegung des Völkerrechts so eine Sache. Belarus gilt nicht als Kriegspartei, obwohl es den russischen Aggressor nach Kräften unterstützt. Umgekehrt sind einige Juristen der Ansicht, dass eine Kriegsbeteiligung auch dann schon gegeben ist, wenn ukrainische Soldaten in Deutschland an westlichen Waffen ausgebildet werden. Bereits mehrfach wurden ukrainische Soldaten auf deutschem Boden trainiert. Andere Verfassungsrechtler werten dies anders.

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Für Scholz kommt noch ein anderer Punkt hinzu. Man müsse bei den Waffenlieferungen in die Ukraine beachten, "was uns die Verfassung vorgibt und was unsere Handlungsmöglichkeiten sind", sagte er am Donnerstag nach einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Rande des Europa-Gipfels im spanischen Granada.

Gemeint ist damit, dass Deutschland eine Parlamentsarmee hat. Für einen Einsatz von Taurus könnte, so die Interpretation, ein Mandat des Bundestags erforderlich sein. Allerdings ist eine Zustimmung des Parlaments laut Rechtsprechung nur "beim Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland" erforderlich. Bei Taurus aber geht es um den Umgang mit Geodaten. Auch in Militärkreisen wird die Argumentation des Kanzlers bezweifelt.

Scholz‘ größte Sorge ist, mit einer falschen Entscheidung die Sicherheit Deutschlands zu gefährden. Das machte er in Granada noch einmal klar. Man müsse selbstverständlich gewährleisten, "dass es keine Eskalation des Krieges gibt und dass auch Deutschland nicht Teil der Auseinandersetzung wird". Stattdessen kündigte er die Lieferung eines weiteren Flugabwehrsystems vom Typ Patriot für den Winter an.

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), warf Scholz daraufhin "fortwährendes Zaudern mit fragwürdigen Argumenten" vor. Dies koste in der Ukraine Menschenleben. Kritiker des Kanzlers verweisen auch darauf, dass sowohl Frankreich als auch Großbritannien bereits Marschflugkörper mit einer Reichweite von 300 Kilometern an die Ukraine geliefert haben.

Doch Scholz lässt sich nicht treiben. Er weiß, dass er bei seinem Kurs momentan eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich hat. Eine Forsa-Umfrage für RTL ergab im September, dass 57 Prozent der Deutschen eine Lieferung der Raketen ablehnen. Allerdings scheint diese Haltung zu bröckeln. Anfang August hatten sich noch 66 Prozent gegen eine Lieferung ausgesprochen.

Der Kanzler hat ein anderes Kalkül

Das Kalkül des Kanzlers ist ein anderes: Er geht davon aus, dass der Krieg in der Ukraine noch jahrelang dauern könnte. Dann aber würden viele Unterstützer von heute vermutlich wegbrechen.

Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. Polen, das anfangs besonders lautstark Waffenlieferungen an die Ukraine forderte und in der Flüchtlingshilfe viel leistete, hat inzwischen kritischere Töne gegenüber dem Nachbarn angeschlagen. Das könnte auch an der bevorstehenden Wahl liegen. In Polen wird am 15. Oktober ein neues Parlament gewählt. Ende September kündigte die Regierung an, vorerst keine weiteren Waffen an die Ukraine liefern zu wollen.  

Scholz hat mehrfach versichert, der Ukraine bis zum Ende beistehen zu wollen. "As long as it takes", ist die Formulierung, die er dafür nutzt.