"Das waren wir nicht!" Eine schiefe Krawatte und eine Kandare für seine Eliten – was von Putins Rede übrig bleibt

Wladimir Putin bei seiner fast zweistündigen Rede vor der Bundesversammlung Russlands 
Wladimir Putin bei seiner fast zweistündigen Rede vor der Bundesversammlung Russlands 
© Sergei Savostyanov/POOL Moscow Russia PUBLICATION / Imago Images
Lange wurde darüber spekuliert, was Wladimir Putin seiner Bundesversammlung zu sagen haben könnte. Am Ende seiner zweistündigen Rede war klar: Der Zar berief seinen Hof ein, um ihn an die Kandare zu nehmen. 

Als Wladimir Putin das letzte Mal vor die russische Bundesversammlung getreten war, stand Mariupol noch, lag Charkiw noch nicht in Trümmern und Cherson glich noch nicht einem Feld aus Asche. Nun, eineinhalb Jahre später, ist die Welt eine andere geworden. Fragt man Putin, ist er der letzte, der dies zu verantworten hat.

Fast zwei Stunden lang dauerte am Dienstag die Rede des Kreml-Chefs an die Bundesversammlung. Zwei Stunden erging er sich in angestaubten Parolen. "Der Westen hat den Krieg entfesselt. Wir benutzen unsere Stärke, um ihn zu stoppen." "Wir verteidigen die Menschen. Das Ziel des Westens ist aber grenzenlose Macht." "Das waren wir nicht! Das waren alles sie." Sie – da sind bei Putin immer die Köpfe des ominösen "kollektiven Westens".

Wie eine überdimensionale betagte Schulklasse hockte die sogenannte russische Elite vor ihrem Oberlehrer Putin, während er seine Plattitüden runterleierte. Sie klatschte Beifall, wenn geheißen, sprang von ihren Stühlen auf, wenn befohlen, hockte sich wieder hin, wenn geboten. 

Wladimir Putin vor der versammelten russischen Elite 
Wladimir Putin vor der versammelten russischen Elite 
© Dmitry Astakhov/POOL/TASS PUBLICATION / Imago Images

Ansonsten folgte die russische Elite mit erstarrten Gesichtern dem monotonen Singsang auf der Bühne. Außenminister Sergej Lawrow kämpfte sichtlich mit dem Schlaf. Der Chef des wichtigsten Staatssenders Perwyj Kanal, Konstantin Ernst, nickte beinahe ein. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow starrte lieber auf den Boden, als die schiefsitzende Krawatte seines Chefs im Auge zu behalten. 

Wladimir Putin kommt zum Höhepunkt 

Als Putin aber nach einer Stunde zum Höhepunkt des Zynismus kam, horchte die russische Elite auf. Denn plötzlich redete ihr Oberbefehlshaber über diejenigen, die vor seiner Bühne hockten. "Anstatt in die russische Wirtschaft, in den Ankauf neuer Technologien und in die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Russland zu investieren, ist das Geld in Anwesen im Ausland, Jachten und Luxusimmobilien geflossen", erlaubte sich Putin einen kleine "philosophischen Exkurs", wie er es nannte. 

"Doch die letzten Geschehnisse haben eindeutig gezeigt: Das Image des Westens als sicherer Hafen und Zufluchtsort für Kapital ist ein Phantom. Diejenigen, die das nicht rechtzeitig verstanden haben, diejenigen, die Russland lediglich als die Quelle ihres Einkommens betrachteten, aber ihr Leben im Ausland planten, haben viel verloren. Dort wurden sie einfach beraubt", erklärte Putin mit einem Achselzucken. 

Mit erhobenem Zeigefinger fügte er hinzu: "Niemandem in der Bevölkerung tun diejenigen leid, die ihr Kapital in ausländischen Banken verloren haben." Im Saal erklang nach diesen Worten bestellter Beifall. Doch durch das Publikum huschten nervöse Seitenblicke, schiefe Grinsen verzerrten so manches Gesicht.

Die Gesichter von Palästen und Jachten 

In der ersten Reihe vor Putin saß Dmitri Medwedew. Der einstigen Hoffnung der russischen Liberalen kosteten vor zwölf Jahren seine Paläste die Popularität in der Bevölkerung. Neben dem abgesägten Interimspräsidenten thronte Wladimir Gundjaew in seinen goldenen Gewändern. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche ist bekannt für seine Sammlung von Luxusuhren und die Vorliebe für deutsche Limousinen. 

Es sind Leute wie Medwedew und Gundjaew, die im heutigen Russland Jachten und Anwesen ein Antlitz verleihen. An sie ging die wichtigste Botschaft des Tages. Unumwunden teilte Putin seinen Eliten mit: Ihr habt alles verloren. Meine Zukunft ist die eure!

"Jeder hat die Wahl. Die einen werden ihren Lebensabend in einer konfiszierten Villa mit blockierten Konten verbringen wollen. Die anderen werden versuchen, ein warmes Plätzchen in einer scheinbar verlockenden westlichen Hauptstadt oder einem Kurort zu finden. (...) Aber es ist an der Zeit zu verstehen: Für den Westen waren diese Leute Fremde zweiter Sorte – und sie werden es auch bleiben", kam Putin auf den wichtigsten Punkt. Nichts werde ihnen helfen, weder Beziehungen noch Geld noch erkaufte Adelstitel. 

Von Links nach rechts in der ersten Reihe: Ministerpräsident Michail Mischustin, Vorsitzender der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin, Ex-präsident Dmitri Medwedew, Patriarch Kyrill. 
Von Links nach rechts in der ersten Reihe: Ministerpräsident Michail Mischustin, Vorsitzender der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin, Ex-präsident Dmitri Medwedew, Patriarch Kyrill. 
© Maxim Blinov/POOL/TASS PUBLICATION / Imago Images

Aber es gebe eine Alternative. "Zusammen mit seinem Vaterland bleiben. Für seine Landsleute arbeiten. Nicht nur neue Unternehmen gründen, sondern auch das Leben um sich herum verändern. Solche Unternehmer, solche wahren Kämpfer gibt es in unserer Geschäftswelt viele. Sie sind die Zukunft des vaterländischen Business. Alle müssen es verstehen: Die Quellen für Reichtum und auch die Zukunft können nur hier liegen, in der Heimat, in Russland!" 

Ein Satz, der den Sinn und Zweck der gesamten Veranstaltung offenbart: Die russischen Eliten an die Kandare zu nehmen. Damit auch gar niemand das torkelnde Gespann verlässt.