Dieser Artikel erschien im stern Nr. 22 am 23. Mai 2013
Die Bombe sollte Dutzende Menschen töten, sie wurde am Gleis 1 im Bonner Hauptbahnhof deponiert. In einer blauen Nylon- Sporttasche, um 12.52 Uhr, am 10. Dezember 2012. Wäre die Bombe an diesem zweiten Montag im Advent hochgegangen, Deutschland hätte wohl den verheerendsten Anschlag seit Jahrzehnten erlebt.
Das Sprengstoffkommando der Polizei entschärfte ein 40 Zentimeter langes Metallrohr, das mit zündfähigem Ammoniumnitrat gefüllt war, mit vier Druckgaspatronen umwickelt und mit einen Wecker und mehreren Batterien verbunden.
Das versuchte Attentat an einem Großstadtbahnhof mitten in Deutschland - es machte Angst. Erleichtert registrierte die Öffentlichkeit deshalb, dass die Polizei schon am Tag nach dem Fund zwei Tatverdächtige festnahm. Doch die beiden Männer kamen bald wieder frei. Augenzeugen hatten sich geirrt.
Motiv zunächst völlig unklar
Die Ermittler gingen 300 Hinweisen von Passanten nach. Sie werteten 50 Terabyte Filmmaterial aus, darunter zweiminütige Videosequenzen zweier Überwachungskameras nahe der McDonald's-Filiale im Hauptbahnhof. Doch der Täter war so gut getarnt, die Fahnder konnten ihn nicht identifizieren. Auch DNA-Spuren brachten keine Treffer in der Datenbank. Ein Haar in der Nylontasche stammte von einer Katze.
Völlig unklar war das Motiv. "Es kann ein Neonazi, ein Islamist oder ein Bahnhasser sein", sagte ein Beamter der 85-köpfigen "Sondereinheit Tasche". Medien schrieben fortan vom "Phantom". Und die Polizei setzte 50.000 Euro aus für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen würden.
Versuchter Anschlag aufgeklärt - nach mehr als fünf Monaten
Wie der stern aus Sicherheitskreisen erfuhr, ist der versuchte Anschlag seit vergangener Woche aufgeklärt - nach mehr als fünf Monaten. Für die Tat verantwortlich: Marco G., 25 Jahre alt, deutscher Staatsbürger, verheiratet nach islamischem Recht, ein Kind. Marco G. ist Salafist.
Festgenommen wurde er schon am 13. März. Da stoppten ihn Polizisten in Leverkusen, 150 Meter vor dem Haus des Politikers Markus Beisicht. Der 50-Jährige ist Chef der rechtsextremen, islamfeindlichen Partei Pro NRW. Marco G. hatte auch ihn töten wollen.
Dass hinter den beiden Attentatsversuchen dieselbe Person steckt, zeigt, wie groß und wie akut die Gefahr ist, die vom Salafismus ausgeht: Teile der Anhänger dieser ultrakonservativen Strömung des Islams sind nicht nur gewaltbereit. Sie besorgen sich Waffen. Sie organisieren sich in Terrorzellen. Sie sind, das ist die Erkenntnis, nicht nur zu allem bereit. Sie handeln auch.
Anschlag sollte das ganze Land erschüttern
Im Fall Beisicht sah es die Terrorzelle des Marco G. auf eine konkrete Person ab. Durch den Anschlag am Bonner Bahnhof, einem öffentlichen Ort, wollte sie das ganze Land einschüchtern. Es sollte eine Demonstration radikal-islamistischer Macht sein. Dass dabei zahlreiche Menschen sterben würden - wahrscheinlich auch Muslime - schreckte die Täter nicht ab.
Marco G. wuchs in Oldenburg auf und konvertierte zum Islam. Bekannt ist, dass er der Polizei das erste Mal auffiel, als er 15 war - wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, wegen mehrfacher Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wegen räuberischer Erpressung kam er für mehrere Jahre ins Gefängnis.
In Bonn, wo Marco G. seit Juli 2011 gemeldet ist, schloss er sich der Islamistenszene an. Marco G. radikalisierte sich und sein Leben. Seine Ehefrau, eine Türkin, war in Oldenburg ohne starke religiöse Einflüsse aufgewachsen. Doch nach der Hochzeit verließ sie ihre Wohnung im Bonner Stadtteil Tannenbusch nur noch verschleiert. Hände und Finger verbarg sie unter Handschuhen. Den Kontakt zum Elternhaus brach Marco G. nicht ab. Von Kontakten zu seinem Vater ist nichts bekannt. Seine Mutter aber versuchte er hartnäckig von seinem Glauben zu überzeugen. Schließlich konvertierte auch sie.
Ermittler nehmen Marco G. ins Visier
Dass Marco G. zu schweren Straftaten bereit war, erkannten die Ermittler im Februar 2013. Seitdem hörten sie sein Mobiltelefon ab, klebten später auch einen Peilsender unter seinen Wagen, einen Peugeot 307 Kombi mit Kindersitz auf der Rückbank. Sie verfolgten das Leben des Terroristen, nicht lückenlos, aber mit großem Aufwand. Anfang März verabschiedete sich Marco G. telefonisch von seiner Mutter. Es dauerte, bis die Mutter verstand: Ihr Sohn plante, für immer zu verschwinden. Die Polizei wertete das Gespräch als Indiz dafür, dass die abgehörte Person eine größere Straftat planen und anschließend das Land verlassen könnte.
Es war der 11. März, zwei Tage vor seiner Festnahme, als sich Marco G. von einem Treffen seiner Zelle in Essen auf den Heimweg machte. Sein Auto war verwanzt. G. fuhr nicht allein zurück. In den Peugeot war auch Koray D. gestiegen, 24, Sohn eines Türken und einer Deutschen. Er stammt aus Wülfrath, studierte in Marburg Arabistik und besuchte wie sein Freund aus Bonn regelmäßig die Assalam-Moschee in Essen.
Als Dritter fuhr Enea B. mit, ein Albaner aus Duisburg-Homberg, der einst in seiner Heimat von Special Forces der USA und auch von einem Sondereinsatzkommando (SEK) aus Nordrhein-Westfalen zum Elitepolizisten ausgebildet worden war. Der 43-Jährige galt als al-Qaida- Kämpfer. Er erteilte den Jüngeren Waffenkunde und brachte ihnen mit Softair-Pistolen das Schießen bei. Der vierte Mann der Zelle, Tayfun S., 23, war in Essen geblieben.
"Wenn wir den Anführer töten, bricht bei denen alles zusammen"
Während der Fahrt feierten sie bereits den Tod von Markus Beisicht. Dessen Partei Pro NRW hat auf Kundgebungen Mohammed-Karikaturen gezeigt und sich dem Kampf gegen den Islam verschrieben. Beisicht war das Hassobjekt der Salafisten. Bereits im Mai 2012 hatte ein Bonner Islamist von Pakistan aus per Videobotschaft zur Ermordung von Pro-NRW-Mitgliedern aufgerufen.
Die drei Männer sprachen darüber, eine Granate unter Beisichts Auto zu platzieren. "Wenn wir den Anführer töten, bricht bei denen alles zusammen", sagte einer von ihnen im Auto während der Fahrt zurück nach Bonn. Das ließ die Beamten aufhorchen: Sie hatten angenommen, dass Marco G. und seine Mitstreiter sich Geld beschaffen würden, zuletzt hatten sie einen Aldi-Markt beobachtet. Doch den Terroristen ging es gar nicht um Raub. Es ging um Mord.
An diesem Abend beteten die drei Mitglieder der Terrorzelle gemeinsam in einer Moschee. Danach fuhren sie in die Wohnung von Marco G. in Bonn-Tannenbusch, um sich auszuruhen. Kurz vor Mitternacht brachen Enea B. und Marco G. in dessen Peugeot noch einmal auf, Richtung Leverkusen und weiter nach Leichlingen, dem Wohnort von Markus Beisicht. Das alarmierte die Polizei, sie rief Observationseinheiten und Sondereinsatzkommandos aus verschiedenen Städten zusammen.
Die Täter sitzen in der Falle
Dann griffen die Einsatzkräfte zu: Als sie sich um 0.25 Uhr Beisichts Haus auf 150 Meter genähert hatten, blieb vor ihnen abrupt ein Linienbus der Kölner Verkehrsbetriebe stehen, am Steuer ein Polizist mit kugelsicherer Weste. Hinter dem Peugeot bremsten wenige Augenblicke später zwei gepanzerte Mercedes- Limousinen. Die Täter saßen in der Falle. Auf ihren Oberkörpern tanzten die roten Laserpunkte von Zielfernrohren. Scharfschützen des SEK hatten sie im Visier. "Wollen wir kämpfen?", fragt einer den anderen.
Die Polizei hörte jedes Wort der Salafisten mit. Die Situation war brenzlig: Die Scharfschützen mussten davon ausgehen, dass die Zielpersonen im Auto Handgranaten bei sich hatten. Mehrfach ertönte aus dem Megafon der Polizei der Befehl, das Auto mit erhobenen Händen zu verlassen. Marco G. und Enea B. waren angeschnallt. Langsam lösten sie die Gurte. Sie gaben auf.
Zur selben Zeit verhaftete die Polizei in Essen das Zellenmitglied Tayfun S. In Bonn sprengte sie die Tür von Marco G.s Wohnung auf. Seine Frau und das zweijährige Kind waren nicht da, nur Koray D., der Arabistik-Student. Bevor Koray D. zu einer Pistole der Marke Ceská griff, wurde er überwältigt.
In den Zimmern fand sich neben drei Gasrevolvern, einem Schlagstock, einer schusssicheren Weste und einer Pro-NRW-Wahlliste mit neun markierten Namen auch ein halbes Kilo Ammoniumnitrat - derselbe Stoff wie in der Bombe vom Bonner Hauptbahnhof. Doch ein Beweis war das noch nicht.
Die DNA-Spur des Sohnes
Den Durchbruch schafften die Spezialisten des Bundeskriminalamts. Auf dem Metallrohr der Bombe entdeckten sie eine männliche DNA-Spur. Diese verglichen sie mit einer DNA-Probe von Marco G. Das Ergebnis: Die beiden Menschen müssen eng miteinander verwandt sein.
Auf dem beim Bombenbau benutzten Wecker hatte man eine weibliche DNA-Spur nachweisen können, und auch diese wies große Übereinstimmung zur DNA auf dem Metallrohr auf. Weil Marco G. mit seiner Ehefrau nur einen Sohn hat, ließen die Laboranalysen auch nur einen Schluss zu: Auf dem Wecker befand sich die DNA der Mutter, auf dem Bombenrohr die des Sohns. Bevor Marco G. das Metallrohr zur Bombe verbaute, hatte der Zweijährige es als Spielzeug benutzt.