Welch ein Unterschied. Der ukrainische Präsident spricht noch keine Minute, da ahnt man schon, dass diesmal alles anders sein wird.
Er wolle sich bedanken, sagt Wolodymyr Selenskyj gleich zu Beginn seiner Rede an den Bundestag gewandt, "dass die Menschlichkeit in Ihren Herzen obsiegt". Der Saal vor ihm ist gut gefüllt, nur das Bündnis Sahra Wagenknecht ist Selenskyjs Auftritt ferngeblieben. Auch aus der AfD sind lediglich vier Abgeordnete gekommen, hinter ihnen viele leere blaue Polsterstühle.
Deutschland sei nicht beiseite gestanden, sondern habe der Ukraine geholfen, sagt Selenskyj.
Vor ihm im Halbrund, um drei Blumensträuße in den ukrainischen Farben Blau und Gelb gruppiert, sitzen die Vertreter der Verfassungsorgane. Unter ihnen der Bundespräsident und der Bundeskanzler, die beide eine schwierige Geschichte mit dem ukrainischen Präsidenten haben. Der eine wegen seiner früheren Russland-Politik als Außenminister, der andere wegen seiner vermeintlich zu zögerlichen Hilfsleistungen in den ersten Monaten des Krieges. Auch Manuela Schwesig ist da, amtierende Präsidentin des Bundesrates, die als Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern lange an die Gaspipeline Nordstream II glaubte und dafür zweifelhafte Kontakte zu Russland unterhalten ließ.
Doch das alles ist in diesem Moment vielleicht nicht vergessen, aber verdrängt. Diesmal soll alles anders sein. Unumwunden sagt Selenskyj: "Ich danke dir, Deutschland."
Die zweite Rede ans Parlament – die erste vor Ort
Der Auftritt im Bundestag ist an diesem Dienstag der Höhepunkt von Selenskyjs Besuch in Berlin. Zum ersten Mal ist er persönlich hier. Drei Wochen nach dem russischen Überfall hatte Selenskyj schon einmal zu den Abgeordneten gesprochen, damals aber per Video aus Kiew. Am 17. März 2022 enthielt seine Rede nur wenig Dank, aber viele Vorwürfe gegen Deutschland. Er kritisierte die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland, "mit einem Staat", wie er damals sagte, "der Sie und noch manche anderen Staaten einfach benutzt, um den Krieg zu finanzieren".
Ihm scheine es, so Selenskyj damals, als befänden sich die Deutschen wieder hinter einer Mauer, die immer größer werde mit jeder Entscheidung, die nicht getroffen werde. Gemeint waren damit aus seiner Sicht fehlende Waffenlieferungen in die Ukraine, aber auch zu lasche wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Eindringlich fragte er Abgeordnete wie Regierung: Was ist die historische Verantwortung Deutschlands 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wert? Antworten bekam er keine.

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Bundeskanzler Olaf Scholz saß auf der Regierungsbank und hörte mit versteinertem Gesicht zu. Das Plenum applaudierte nach der Rede, doch eine Reaktion, gar eine Aussprache gab es nicht. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt geriet in die Kritik, weil sie die Sitzung einfach entlang der Tagesordnung fortsetzte. Nächstes Thema damals: die Impfpflicht.
Russland müsse den Schaden bezahlen, fordert Wolodymyr Selenskyj
Diesmal ist alles anders. "Das geteilte Europa war niemals friedlich, das geteilte Deutschland war nie glücklich", sagt der Präsident. Deshalb könnten die Deutschen so gut verstehen, warum die Ukraine nicht geteilt werden wolle. Jene Ukrainer, deren Verwandte auf den Schlachtfeldern geblieben seien, verdienten eine würdige Beendigung des Krieges. Und der, der den Krieg gebracht habe, müsse zur Rechenschaft gezogen werden. Russland müsse den Schaden bezahlen. Es dürften keine Ruinen bleiben, so Selenskyj. Dafür müsse auch verfügbares russisches Geld verwendet werden. Putin habe "auf Mord gesetzt, nicht auf Verträge". Man dürfe Russland keinen weiteren Marsch durch Europa erlauben. Es ist unser gemeinsames Interesse, dass Putin persönlich verliert.
Wieder bringt er das Bild von einer Mauer, das ihm für Reden an die Deutschen besonders geeignet erscheint. Aber diesmal benutzt er es ganz anders, mit einer positiven Note:
Niemand habe vor 1989 damit gerechnet, dass die Berliner Mauer so schnell fallen könne. Veränderung und Frieden seien möglich: "Es gibt keine Mauern, die nicht fallen", sagt Selenskyj.
Es habe auch niemand damit gerechnet, wie lange die Ukraine sich zur Wehr setzen könne, so der Präsident. Dies sei durch die Hilfe Deutschlands und anderer Verbündeter möglich geworden. Ausdrücklich erwähnte er die Patriot-Raketen aus Deutschland, die "Tausende Leben gerettet" hätten. Dafür danke er, so Selenskyi und applaudiert plötzlich selbst am Rednerpult in Richtung seiner Zuhörer.
Langer Applaus am Ende der Rede
"Wir wollen der Diplomatie eine Chance geben", sagt Selenskyj mit Blcik auf die anstehenden Konferenzen zur Ukraine und dem G7-Gipfel in Italien, zu dem er auch als Gast erwartet wird. Man müsse zusammenarbeiten und die Ukraine "Mitglied des europäischen Sicherheitsraumes" werden – ein Begriff für zwei Institutionen: Europäische Union und Nato.
Jeder im Saal weiß, dass das noch dauern wird. Auch Selenskyj. Doch an diesem Tag geht Eintracht vor Differenzen. Lange ist der Applaus am Ende der Rede. Die Deutschen wirken fast erleichtert, dass es diesmal so ganz anders war.