Zwischenruf Das Phantom der Politik

  • von Hans-Ulrich Jörges
Deutschland, einig Wunderland: Im Wahlkampf versprechen die Parteien das Blaue vom Himmel - als lebten sie in einer anderen Welt. Doch die Krise beginnt erst richtig, wenn die Konfettiparade vorüber ist - und die Lügen zerplatzen.

Es ist der teuerste Wahlkampf aller Zeiten. Obgleich er noch nicht einmal richtig begonnen hat. Lassen wir einmal die 760 Milliarden Euro an Staatshilfen und Garantien für das wankende Bankensystem und die 80-Milliarden-Pakete für die siechende Konjunktur beiseite. Die waren unumgänglich, im Prinzip, um die Krise zu kontern. Obgleich auch darin politische Rendite für die Große Koalition eingerechnet war, zahlbar am Wahltag 27. September 2009.

Etwas anderes ist es schon mit den drei spektakulären - und höchst populären - Projekten von Union und SPD, um das Volk in düsteren Zeiten bei Laune zu halten und jenen 27. September ohne politische Havarie zu überstehen: Rentengarantie, Kurzarbeit und Abwrackprämie. Sicher, sie sind im Kern ökonomisch begründet. Doch alle drei sind auch prall mit Wahlkampf-Kalkül aufgeblasen. So prall, dass politische Blasen daraus wurden, die nach dem Wahltag platzen werden. So laut, dass uns die Ohren pfeifen werden.

Die Renten-Blase: 20 Millionen Deutsche sind über 60 Jahre alt, ein Drittel der Wahlberechtigten, ungemein machtvoll. Niemals sollen ihre Altersbezüge sinken, versprach die Große Koalition, wischte die mühsam konstruierte Koppelung der Renten an die Arbeitnehmereinkommen vom Tisch - und versprach den Jungen damit wachsende Rentenbeiträge. "Gekniffene" nennt sie, in einem Anflug anarchischer Aufrichtigkeit, Finanzminister Peer Steinbrück.

Die Kurzarbeiter-Blase: Bis zu 24 Monate können Betriebe ihre Belegschaft auf Kurzarbeit setzen, um Entlassungen zu vermeiden - und politisch verheerende Arbeitslosenzahlen. Unternehmen werden von Sozialbeiträgen für alle Betroffenen befreit, wenn auch nur in einem einzigen ihrer Betriebe länger als sechs Monate kurzgearbeitet wird. Eine spezielle Subvention für die Großindustrie, ein kleiner Skandal. Die Bundesagentur für Arbeit hat ihre Rücklagen aufgezehrt und braucht 2010 voraussichtlich 20 Milliarden Staatskredit, Rückzahlung ungewiss. Nach der Wahl, bis zum Frühjahr, werden die 24 Monate peu à peu auslaufen. Dann reißt das Netz.

"Siegt Angela Merkel, hat sie den Sieg auch gekauft - und die SPD hat ihn mit bezahlt"

Die Auto-Blase: Ist die Abwrackprämie ausgeschöpft, schlägt für die Autoindustrie die Stunde null. Im kommenden Jahr dürfte der Absatz dramatisch einbrechen, um ein Viertel etwa, schätzen Experten.

Erholt sich die Konjunktur nicht rasch, werden Wirtschaft und Arbeitnehmer also erst nach der Wahl richtig von der Krise gepackt. Jeder in der Koalition weiß das, aber niemand spricht darüber im Wahlkampf. Das Motiv des Schweigekartells: Die Linke in der Krise klein halten, koste es, was es wolle. Es kostet astronomische Summen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Bis 2013 wird die Verschuldung des Staates um gut 500 Milliarden auf mehr als zwei Billionen Euro steigen. Generationen werden unter dieser Last ächzen.

Man wüsste gern, wie sich die Parteien auf diese Not einrichten, was sie zu tun gedenken. Doch die Politik feiert Wahlkampf- Party. Als wäre nichts. Als gäbe es noch reichlich zu verteilen. Es ist ein Festival der Verantwortungslosigkeit, eine Konfettiparade der Täuschung. Und alle nehmen daran teil, ausnahmslos. Deutschland, einig Wunderland. Ein Phantomland der Politik. So irreal war Wahlkampf noch nie.

Siegt Angela Merkel, hat sie diesen Sieg auch gekauft - und die SPD hat ihn mit bezahlt. Vor vier Jahren hätte Merkel mit Ehrlichkeit um ein Haar verloren, diesmal hat sie sich zur Verschleierung entschlossen. "Die Welt hat über ihre Verhältnisse gelebt", sagt die Kanzlerin zur Finanzkrise. Und verspricht nun selbst die Fortsetzung: Senkung der Einkommensteuern, Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag, Betreuungsgeld für Eltern, kostenlose Kindergartenplätze, höheres Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger, Mindestrente über dem Existenzminimum, höhere Renten für Mütter, Steuergeld für die Krankenkassen, frische Subventionen für die Bauern. Wer das Wahlprogramm der Union liest, reibt sich die Augen. Die SPD ist bescheidener, aber auch sie verspricht mehr: niedrigerer Eingangssteuersatz, 300 Euro pauschal für jeden, der keine Steuererklärung abgibt.

Regiert ab Herbst Schwarz-Gelb, wird die neue Koalition die Einkommensteuern senken. Das darf der Wähler glauben. Man wird das als Konjunkturprogramm ausgeben und auf Pump finanzieren. Der Rest der Verlockungen wird verweht von wachsenden Schulden, sinkenden Steuereinnahmen und Not leidenden Sozialsystemen. Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen brauchen Beitragserhöhungen oder wachsende Steuerzuschüsse. Die neue Schuldenbremse im Grundgesetz indes zwingt zum Sparen. Und das wäre Gift in der Krise - wie höhere Steuern und Sozialbeiträge.

Wird die Politik nicht, wie von Gottes Hand, durch eine boomende Wirtschaft erlöst, erscheint die Zwangslage schier aussichtslos. Dann zerplatzen Illusionen und Lügen, dann beginnen bittere Jahre.

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