Stirling Colgates Haut dampft, als er vom Hockeyfeld zurück zu dem Holzverschlag stapft, der den Jungs als Unterkunft dient. Selbst jetzt noch, Anfang Dezember, lassen die Lehrer sie nur in kurzen Hosen Sport treiben. Es diene der Abhärtung, wird ihnen gesagt. Abhärtung hatten sie alle bitter nötig, als sie aus den wohlgeheizten Neuengland-Villen ihrer reichen Eltern hierher auf die Ranch School kamen. Hoch in den Jemez Mountains im US-Staat Neu Mexiko, wo die Luft so dünn und klar ist, dass ein tiefer Atemzug während der ersten Wochen die Lungen schmerzen lässt. Sie sind hergeschickt worden, damit aus verzärtelten Ostküsten-Jungs harte Männer werden.
Während Stirling die überfrorenen Matschpfützen umrundet, grübelt er wie so oft in den letzten Tagen darüber nach, warum er neulich den Nobelpreisträger Ernest Lawrence aus der Tür des Schulleiters hat kommen sehen. Stirling Colgate liebt die Physik, und der Physiker Lawrence ist eine Berühmtheit - vor einigen Jahren hat sogar "Time Magazine" sein Gesicht auf der Titelseite gezeigt. Später an diesem Abend erfährt Colgate auf einer Schulversammlung den Grund des seltsamen Besuchs. Die Armee hat das menschenleere Gelände in den Jemez Mountains gekauft. Die Ranch School wird aufgelöst. Doch erst Jahre später - Colgate ist inzwischen als berühmter Physiker an den Ort zurückgekehrt, an dem er im Dezember 1942 in kurzen Hosen durch die Kälte getobt war - kennt er die ganze Geschichte. Die Armee suchte damals einen abgeschiedenen Platz, um eine Geheimwaffe zu bauen. Unter der Leitung von Robert Oppenheimer versteckte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern in der Abgeschiedenheit der Berge und arbeitete unter dem Codenamen "Manhattan Project" an der Entwicklung der Atombombe.
Strikte Geheimhaltung
Doch eine Stadt zu errichten, in der Wissenschaftler forschen und ihre Familien leben, ohne dass der Rest der Welt davon erfährt, ist keine einfache Aufgabe. Damit möglichst wenige von dem "Manhattan Project" erfahren, wird ein Mitglied des Teams mit der Planung beauftragt. Der Metallurg Hugh Bradner aus Chicago nimmt sich die Gelben Seiten seiner Stadt und sucht dort nach öffentlichen Einrichtungen, die Los Alamos braucht. Seine Idee ist clever. Einzig ein Geldinstitut hat die Wissenschaftler-Kolonie in den ersten Monaten nicht - Banken inserierten in jenen Tagen nicht in den Gelben Seiten. Die strikte Geheimhaltung funktioniert. Wer kein Wissenschaftler ist und in Los Alamos arbeitet, wird nur angestellt, wenn er ein entscheidendes Kriterium erfüllt: Er muss Analphabet sein. Denn jede Putzfrau oder jeder Müllmann, die auf einem achtlos weggeworfenen Zettel eine Formel oder eine Notiz lesen können, ist ein potenzieller Spion. Die einzige Verbindung von Los Alamos zur Außenwelt ist das Postfach 1663 auf dem Postamt in Santa Fe. Durch dieses Fach geht die gesamte Korrespondenz, die zur Entwicklung der tödlichsten Waffe der Welt geführt wird. Es ist das einzige offizielle Zeugnis für die Existenz von Los Alamos. Selbst wenn eine Familie in der Stadt ein Baby bekommt, wird es laut Geburtsurkunde im Postfach 1663, Santa Fe, Neu Mexiko, geboren.
Als die ersten Atombomben 1945 gezündet werden, leben in Los Alamos 6000 Menschen. Es gibt weder eine lokale Zeitung noch Handelsreisende, die von Tür zu Tür etwas verkaufen wollen, wie im Rest des Landes. Keine Kneipe, keinen Friedhof, keinen Fast-Food-Laden, keine Eigenheime. Wer hier in Regierungswohnungen unterkommt, ist kaum älter als 40 Jahre und muss ständig ein Namensschild mit Foto tragen.
Bis heute keine normale amerikanische Stadt
Bis 1957 bleibt die geheime Gemeinde eine verbotene Stadt. Erst dann haben sich die Laboratorien so weit vom Ort getrennt, dass sie in einer eigenen Sicherheitszone abgeschirmt werden. Noch heute ist Los Alamos führend in der Forschung, und deshalb ist es noch immer keine normale amerikanische Stadt. Die Kinder, die hier heute zur Schule gehen, haben zwar nicht mehr ganz so reiche Eltern wie Stirling Colgate und seine Klassenkameraden, gelten aber als außergewöhnlich intelligent. Denn ihre Väter und Mütter gehören zu den brillantesten Wissenschaftlern der Gegenwart. Nur gesund und abgehärtet sind sie nicht. Die Anzahl von Gehirntumoren liegt über dem Landesdurchschnitt. Der Boden der Hochebene ist radioaktiv verseucht, der Ort ist einer der ungesündesten Amerikas.