Manchmal hat Dina Babbitt, geborene Dinah Gottliebová, diesen Traum: sie auf dem Schulhof ihres alten Gymnasiums in Brünn, wartend auf den Abtransport. Auf der Treppe zur Schule steht Josef Mengele, der KZ-Arzt von Auschwitz. Er sondiert die Menge, schaut sie an und sagt schließlich: "Diesmal entkommst du mir nicht." Dina hat ihn oft geträumt, diesen Traum, er sagt viel über ihr Leben. Mehr als 60 Jahre nach Kriegsende verfolgt Mengele sie noch immer. Mehr als 60 Jahre nach der Befreiung sind da diese Träume, Erinnerungen, Gedanken-Bilder. Und reale Bilder, mit Wasserfarben gemalt, die sie gleichfalls verfolgen und nicht ruhen lassen.
Dina Babbitt ist 84, sie überlebte den Holocaust. Sie überlebte den Holocaust, weil sie zeichnen konnte. Sie entging dem Tod, weil sie etwas konnte, was Fotografie damals nicht leisten konnte, nämlich feinste Farbnuancen auf menschlicher Haut wiedergeben. Sie und ihre Mutter Johanna überlebten, weil Josef Mengele sie brauchte für seinen Rassenkundenwahnsinn. Sie malte, um zu leben.
Dies ist die Geschichte von Dina Babbitt, geboren am 21. Januar 1923 in Brünn, die in Auschwitz Porträts von Sinti und Roma zeichnete. Und keinen Frieden finden kann, weil es seit vielen Jahren um diese Bilder Streit gibt zwischen dem Museum von Auschwitz-Birkenau und der Babbitt-Familie, zwischen Polen und den USA. Das Museum sagt, es sei rechtmäßiger Eigentümer dieser Aquarelle. Dina Babbitt sagt, sie habe die Bilder gezeichnet, sie seien also ihr Eigentum.
Die Sonne scheint über der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Alles in allem war es ein gutes Jahr. Wieder sind mindestens eine halbe Million Besucher gekommen. Und wie in den Vorjahren haben ehemalige Häftlinge des Vernichtungslagers dem Museum wertvolle Erinnerungen überlassen oder vererbt - vergilbte Notenblätter, die vom Lagerorchester verwendet wurden, als es den Zwangsarbeitern beim Auszug in die Steinbrüche aufspielen musste; einen Ring, den sich ein Gefangener heimlich angefertigt hatte, Skizzen, Bilder, ein blechernes Feuerzeug, das die Häftlinge vor den KZ-Wächtern verbergen konnten.
"Unschätzbar" nennt Krystyna Oleksy, stellvertretende Direktorin der Gedenkstätte, diese Exponate aus jener Zeit, als hier täglich systematisch Menschen vergast, erschlagen, gefoltert, erhängt oder zu Tode geschunden wurden, 1,5 Millionen insgesamt. Jeder rostige Nagel, der in den Häftlingsbaracken gefunden wird, ist Teil dieser Geschichte. Und die Aquarelle, die Dinah Gottliebová für Mengele malen musste, sind für Frau Oleksy Ikonen aus diesen Jahren. Ein, wie sie sagt, "unersetzlicher Bestandteil" der Gedenkstätte.
Krystyna Oleksy sitzt in ihrem Büro, der ehemaligen Kantine der SS. Sie trägt eine rosafarbene Bluse und eine Perlenkette. Oleksy ist eine kluge und nachdenkliche Frau. Draußen die Gassen aus Stacheldraht, Baracken, die Wand, an der die SS-Erschießungskommandos Männer und Frauen exekutierten, der Galgen, an dem einst Häftlinge gehenkt wurden und an dem 1947 das Todesurteil an Rudolf Höß, dem letzten Kommandanten des KZ, vollstreckt wurde.
Es gibt gewiss schönere Arbeitsplätze für eine Museumsdirektorin. Ihrer sei notwendig für "das Gewissen der Menschen". Sie sagt: "Es tut mir unendlich leid, eine Überlebende von Auschwitz verletzen zu müssen." Und erzählt, wie die Aquarelle in die Gedenkstätte kamen.
Dieser Teil der Geschichte beginnt mit einem zwölf Jahre alten Jungen aus dem Ort Auschwitz, der, von Neugier gepackt, wenige Tage nach der Befreiung durch die Russen am 27. Januar 1945 in das Konzentrationslager lief. 7000 bis auf die Knochen abgemagerte Häftlinge hatten dort überlebt. Als der Junge wieder nach Hause kam, hatte er Eva an der Hand, ein zwei Jahre altes Mädchen. Die Kleine hatte immer geweint, er hatte Mitleid, also nahm er sie mit. Das Mädchen trug ein Bündel, das ein Überlebender ihnen mitgegeben hatte. Darin lagen zusammengerollt sieben Aquarelle von Dinah Gottliebová.
Warum die Gefangenen dem Kind die Bilder zusteckten, ist bis heute ein Rätsel. Eva war mit einem der letzten Transporte aus Ungarn eingetroffen. Viel mehr war über sie nicht zu erfahren. Sie wurde von den Eltern des Jungen, der sie aus dem Lager mitgenommen hatte, adoptiert. Als sie in den 1960er Jahren Zahnmedizin studierte, übergab sie die Aquarelle dem Museum. Niemand wusste, wer sie gemalt hatte. Gottliebová hatte sie zwar signiert, aber lediglich mit der Jahreszahl 1944 und ihrem Vornamen Dinah. Und es gab viele Dinahs in Auschwitz-Birkenau.
1969 erschien in Polen ein Buch über die Todeszüge nach Auschwitz, und darin war eine bis dahin unbekannte Zeichnung der Gottliebová abgedruckt. Diesmal hatte sie ihren vollen Namen an den unteren Rand geschrieben, Dinah Gottliebová. Die Leitung des Museums ermittelte die aktuelle Adresse der Malerin und schrieb einen Brief nach Amerika - an Dina Babbitt, geborene Dinah Gottliebová. "Wir haben ihr mitgeteilt, dass die Bilder gefunden wurden, und sie eingeladen, nach Auschwitz zu kommen", sagt Krystyna Oleksy.
Das war 1973. Seitdem herrscht Streit.
Das Museum fühlt sich als rechtmäßiger Besitzer. Die Bilder seien Zeugnisse des nationalsozialistischen Völkermordes, die eben an diesen historischen Ort gehörten, an dem sie unter menschenunwürdigen Umständen entstanden. Ihr einziger Zweck sei es gewesen, Mengeles wahnsinnige Rassenforschung zu dokumentieren, was sie ergo zu "Dokumenten" mache. Dennoch erkennt das Museum das geistige Eigentum der alten Dame an und besteht darauf, dass sie ohne Genehmigung der Künstlerin nicht reproduziert werden dürfen. Es ist ein merkwürdiger Streit, weil beide Seiten im Prinzip auf der richtigen Seite stehen, weil beide natürlich wollen, dass die Erinnerung an das Grauen weiterlebt. Weil beide Seiten wollen, dass möglichst viele Menschen die Bilder sehen, die einen in den USA, die anderen in Polen.
Der Streit entzündet sich vielmehr an der Frage: Geht Gemeinwohl vor Eigenwohl? Das ist die europäische Sicht der Dinge. Die amerikanische Sicht der Dinge ist diametral entgegengesetzt: Das Individuum, Dina Babbitt also, hat immer Priorität. Daran scheiden sich nun die Geister, und daraus hat sich ein Politikum auf höchster Ebene entwickelt. Der US-Kongress verfasste vor Jahren bereits eine Resolution und forderte darin die Regierung in Warschau auf, "die Kunstwerke an Dina Babbitt, ihren rechtmäßigen Besitzer, zu überstellen". Nun wurde das US-Außenministerium eingeschaltet. Ohne Erfolg. Künstler und jüdische Organisationen protestierten, und vor ein paar Monaten unterschrieben 450 Karikaturisten und Filmzeichner aus aller Welt eine Petition. "Es ist das unumstößliche Prinzip", heißt es da, "dass Kunst dem Künstler gehört, der sie erschafft. Das gilt überall, nur nicht in totalitären Staaten."
Auf der anderen Seite stehen das Museum und Nachfahren der Opfer. Für Romani Rose, Vorsitzender des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Roma und Sinti, ist es klar, dass die Aquarelle nicht "einfach einer privaten Nutzung" zugesprochen werden dürfen, womöglich in einem kleinen Museum verstauben oder, schlimmer noch, unter den Hammer eines Auktionators geraten. Abgesehen davon, sagt Rose, "hatten auch die abgebildeten Personen keine Möglichkeit, sich der Anfertigung der Bilder zu widersetzen" - und dennoch ein Recht am eigenen Bild. Sinti und Roma aus elf Ländern waren während des Krieges nach Auschwitz deportiert und dort im Lagerabschnitt B II e Birkenau, dem sogenannten Zigeunerlager, ermordet worden. An sie erinnert eine Dauerausstellung im ehemaligen Stammlager, Baracke 13. Und eben dort hängen die Aquarelle der Dinah Gottliebová im Halbdunkel einer kleinen Kammer. Kein Spotlight strahlt sie an, kein Scheinwerfer hüllt sie in Licht. Das würde die empfindlichen Farben gefährden.
Die Sonne scheint in Felton, Kalifornien. Dina Babbitt sitzt in ihrem kleinen Holzhaus, mitten im Wald, eineinhalb Stunden von San Francisco entfernt. Sie ist klein, feingliedrig und im hohen Alter noch hübsch, klare blaue Augen, rötliches Haar. Sie verabscheut diesen Streit: "Ich möchte kein Geld - aber es sind einfach meine Bilder. Ein Teil meiner Seele ist in diesen Bildern. Ein Stück von mir." Sie ist zu alt, um noch lange zu streiten. Es streiten statt ihrer die Töchter und Enkelkinder und eine streitbare Kongressabgeordnete aus Nevada. Es streiten zu viele in ihrem Namen. Zuweilen kann man den Eindruck gewinnen, es ginge um pure Rechthaberei, hüben wie drüben. Dabei geht es in Wahrheit um die Seele der Dina Babbitt, die endlich Ruhe finden soll.
In einer Ecke des Holzhauses steht eine Staffelei mit einem Bild. Es zeigt eine junge Frau mit blauem Kopftuch. "Das ist Celine", sagt Babbitt. Celine war eine der ersten Roma, die sie für Mengele malte. Babbitt nennt ihn noch heute "Doktor Mengele". Sie setzt sich an den Küchentisch und erzählt ihr Leben. Was für ein Leben!
Dinah Gottliebová ist 19 Jahre alt und besucht in Prag die Kunstschule, als sie von ihrer Mutter Johanna einen Brief bekommt. In dem steht, dass sie, die Mutter, tschechische Jüdin, nach Theresienstadt deportiert werden soll. Dinah geht freiwillig mit ins Lager, sie liebt ihre Mutter, sie, das einzige Kind, sie kann die Mutter Johanna nicht im Stich lassen. Im Lager arbeitet Dinah in der Ölmalerei, stellt berühmte Postkartenmotive nach und begegnet dort der Liebe ihres Lebens, Karel Klinger. Sie verloben sich und geloben einander Treue. Dinah und Johanna Gottliebová bleiben eineinhalb Jahre in Theresienstadt. Dann ergeht die Order, dass die Mutter in ein Lager im Osten verlegt werde, "wir hatten keine Ahnung, was das bedeutet, wir ahnten nur nichts Gutes". Auschwitz. Dinah meldet sich abermals freiwillig, und auch Karel will sie begleiten. Aber sie lässt das nicht zu; Karels Mutter ist blind, sie braucht die Hilfe ihres Sohnes.
Dinah und Karel sehen sich nie wieder, er stirbt zwei Tage vor der Befreiung im Lager Dachau an Typhus. Ein Freund wird sich nach dem Krieg bei ihr melden und ein Stück braunes Papier überreichen, auf das ihr Liebster geschrieben hat: "Ich wünsche dir ein gutes Leben." Und darunter: "Ich erkläre hiermit Dinah Gottliebová zu meiner angetrauten Ehefrau."
Dinah und Johanna Gottliebová kommen gemeinsam mit 5000 weiteren aus Theresienstadt deportierten Juden ins Familienlager in Birkenau. Sie trifft einen Bekannten aus Brünn, Freddy Hirsch, und der fragt sie, ob sie für die Kinder etwas malen könne. Er organisiert Farbe, und sie bemalt die Barackenwände. Sie malt Berglandschaften mit blühenden Wiesen und Sonne und Hoffnung. Sie malt, auf Wunsch der Kinder, Schneewittchen und die sieben Zwerge. Der Disney-Film war der letzte, den Juden noch im Kino sehen durften - Dinah hatte ihn siebenmal gesehen, sie hätte die Figuren im Schlaf zeichnen können.
Die bunten Bilder an den Baracken fallen auf in Auschwitz-Birkenau, dem Ort des Todes, und eines Tages nähert sich ihr ein SS-Mann, "er hieß Lucas", und befiehlt: "Steig in den Wagen." Sie denkt: "Das ist es jetzt, ich werde erschossen oder vergast." Aber sie halten an den Baracken der Sinti und Roma. Dinah sieht dort einen Mann, der gebückt vor einer Stativ-Kamera steht, sein Körper halb verdeckt durch ein Tuch. "Hier ist die Malerin", sagt Lucas, und der Mann, groß und dichtes Schwarzhaar, fragt knapp: "Kannst du Porträts malen?" Sein Name ist Josef Mengele.
Es ist das Frühjahr 1944.
In den folgenden zwei Monaten zeichnet Dinah für Mengele. Sie zeichnet für ihn, weil Wasserfarben die Hauttönungen der Häftlinge besser treffen als Fotos und er diese Porträts als Teil seiner Rassen- forschung begreift. Dinah bekommt eine kleine Kammer. Sie malt elf Frauen und Männer, vier Aquarelle sind bis heute verschollen. Mengele sagt ihr anfangs: "Wähl deine Objekte selbst aus", und sie sucht das schönste Mädchen aus und porträtiert es mit einem roten Kopftuch. Danach wählt sie Celine, "meine Gypsy-Madonna", ein junges Ding aus Frankreich mit dunklen, traurigen Augen; ihr Baby ist im Lager verhungert. Sie malt Celine wie eine Heilige, den blauen Schal um den Kopf gewunden. Einmal stürzt Mengele in den Raum und hebt das Kopftuch, um Celines Ohr sichtbar zu machen. "Ich will das Ohr", herrscht er sie an. Für ihn ist das keine Kunst, es ist Teil seiner Experimente. Wenige Kilometer entfernt, im Stammlager Auschwitz I, führt er seine Menschenversuche durch. Celine stirbt im Gas.
In ihrem kleinen Holzhaus in Felton, Kalifornien, hat Dina Babbitt angefangen, Celine wieder zu malen. Celine trägt das blaue Kopftuch, ihr Ohr ist jetzt bedeckt. Dina will ihr ein Stück Würde zurückgeben. Die junge Französin war die letzte Person, die Dina aussuchen durfte. "Mengele konnte nicht ertragen, dass ich schöne Menschen auch schön malte. Es war ihm zu viel." Fortan übernahm er die Auswahl. Er selektierte selbst hier.
Zwei Monate lang malt Dinah Porträts im Todeslager, und das spricht sich herum. SS-Leute kommen und möchten von ihr gezeichnet werden. Sie bekommt von ihnen Zigaretten, die sie in Brot umtauscht. Irgendwann sollen ihre Mutter und sie abermals verlegt werden - vom Familienlager ins Arbeitslager. "Arbeits- lager", sagt sie, "war für uns das Synonym für Tod." Als Mengele verfügt, dass Dinah bleiben darf, fragt sie: "Und meine Mutter?" Er sagt: "Was ist ihre Nummer?" Dinah kennt nur ihre eigene tätowierte Häftlingsnummer, 61016. Schließlich setzt Mengele auch die Mutter auf die Liste derer, die bleiben dürfen, die leben dürfen. Er braucht Dinah, und sie braucht ihre Mutter. Es ist ein Pakt mit dem Teufel. Aber sie leben.
Dina Babbitt erzählt mit ruhiger, klarer Stimme. Ohne Pathos. Sie erzählt von ihrem Vater, der sie und die Mutter verließ, als sie vier Monate alt war. Den sie mit seiner neuen Familie wiedersah in Auschwitz-Birkenau, manchmal steckte sie ihnen etwas Essen zu, aber konnte doch nicht helfen; "sie wurden vergast". Der Koffer ihres Stiefbruders Peter zählt auch zu den Ausstellungsstücken im Lager.
Sie erzählt von Mengeles Menschenexperimenten. Davon, wie Mengele sie einmal mitnahm in sein Menschenlabor und sie zwei Männer in einem Bassin treiben sah und nicht wusste, was das zu bedeuten hatte. Wie ihm in einer Baracke ein Junge präsentiert wurde, schwach und krank, und Mengele sie fragte, ob sie den Jungen malen könne. Wie sie versteinert dastand, bis er sagte: "Ach, lassen wir das." Dina Babbitt kann nicht verstehen, wie Josef Mengele zu seinem Spitznamen "Todesengel" kam. Damals im Lager wäre niemand auf die Idee gekommen, diesen Mann "Engel" zu nennen, nicht mal in Verbindung mit dem Tod, "gefühllos, unmenschlich, nicht von dieser Welt". Aber Mengele ließ sich selbst von ihr zeichnen, im Frühsommer 1944. "Fällt dir etwas auf an mir, was sonst nur meiner Frau auffallen könnte?", fragte er. Sie sagte: "Ja, der Knopf im Ohr." Er hatte dort eine Knorpelablagerung, die sie an Steiff-Tiere erinnerte. Mengele lachte.
Am 19. Januar 1945, acht Tage vor der Befreiung durch die Russen, verließen Dinah und ihre Mutter das Todeslager. Ein Todesmarsch. An den Straßenrändern lagen Leichen, "einigen quoll das Gehirn aus dem Kopf". Sie gingen zwei oder drei Tage und wurden schließlich in einen Zug verfrachtet. Dinah und ihre Mutter durchstanden bis zum Kriegsende noch zwei weitere Konzentrationslager, Ravensbrück und Neustadt-Glewe. Von den 5000 tschechischen Juden, die aus Theresienstadt nach Birkenau verbracht worden waren, hatten 27 überlebt, darunter die Gottliebovás.
Dinah ging nach dem Krieg nach Paris, lernte dort den Amerikaner Art Babbitt kennen, heiratete ihn, strich das h am Ende ihres Vornamens, nahm seinen Nachnamen an, folgte ihm nach Kalifornien und arbeitete für Zeichentrickfilmer. Sie bekam zwei Töchter, ließ sich scheiden und sprach nur selten über den Holocaust. Wahrscheinlich wäre ihre Geschichte vom Überleben durch Zeichnen nie publik geworden, wären nicht sieben ihrer Wasserfarbenporträts in den Besitz des Auschwitz-Museums gelangt. Und hätte sie nicht 1973 den Brief erhalten und sich nach Polen, nach Auschwitz, aufgemacht.
Über das, was an jenem Tag passierte, gehen die Meinungen auseinander. "Es war ein langes, nachdenkliches Gespräch", erinnert sich die Direktorin. Dina Babbitt habe von ihrer Zeit in Auschwitz berichtet und erklärt, wie glücklich sie sei, dass die Bilder gefunden worden seien. Davon, dass sie die Originale für sich beanspruche, sei damals nicht die Rede gewesen. Ein paar Fotos ihrer Bilder hätte sie allerdings gern gehabt. "Und diesen Wunsch", sagt Krystyna Oleksy, "haben wir ihr natürlich erfüllt." Das Gespräch wurde auf Tonband aufgenommen, wie alle Aussagen und Erinnerungen der Überlebenden der Vernichtungslager.
Dinas Version ist eine andere. "Es war eher ein Verhör", sagt sie. Dass sie die Bilder, ihre Bilder, kurz in den Händen halten durfte. Dass sie darum bat, eine Tour durchs Museum machen zu dürfen, und ihr das erst nach langem Hin und Her gestattet wurde. "Polen war damals ein anderes, ein autoritäres Land", sagt sie, und dass sie sich von der Atmosphäre dort bedrückt fühlte. Sie fuhr nach Hause, ohne ihre Bilder, "ich fühlte mich hilflos".
Seitdem, seit mehr als 30 Jahren, ist der Ton auf beiden Seiten schroff und unversöhnlich. Die Direktorin hat nicht mehr mit Dina geredet, würde das aber gern und jederzeit tun. Sie würde ihr sagen, dass ihre Bilder ein wichtiger Teil des "Gewissens der Menschheit sind. Dokumente, die der Allgemeinheit gehören". Die Verhandlungspartner der Direktorin sind Babbitts zwei Töchter und Enkel. Mit denen indes möchte Krystyna Oleksy nicht sprechen, "nie mehr". Es hat sich im Laufe der Jahre zu viel zwischen den Parteien aufgestaut. Aus Auschwitz gibt es den Brief des ehemaligen Direktors Tadeusz Szymanski, der Babbitt schrieb, es sei eine Schande, dass sie die Bilder zurückfordere, und wenn überhaupt, hätte allenfalls Mengele Anspruch auf die Porträts. Krystyna Oleksy verweist andererseits auf eine Empfehlung aus dem Hause Babbitt, sie, die Direktorin, möge sich aufhängen. Das ist der Ton.
Die Direktorin sitzt in ihrem Büro. Sie ist nachdenklich. Sie verabscheut diesen Streit. Oleksy sagt aber auch: "Es geht hier doch um viel mehr als nur um die Aquarelle." Da ist etwa der weltberühmte schmiedeeiserne Torbogen vor dem Stammlager, mit der zynischen Inschrift "Arbeit macht frei". Den musste der KZ-Häftling Jan Liwacz fertigen. Auch Liwacz hat Nachfahren, die die Herausgabe dieses Werks verlangen könnten. In den Schubladen und Vitrinen der Gedenkstätte liegen rund 5000 Pläne, die von den KZ-Insassen für den Bau von Baracken, Krematorien oder Straßen gezeichnet wurden. Jedes einzelne Blatt trägt eine Unterschrift. All diese Menschen haben Nachkommen, die klagen könnten. "Wenn das Schule macht", sagt Krystyna Oleksy, "sind wir irgendwann ein Museum der Kopien." Aus diesem Grund hofft sie, dass die Bilder der Dina Babbitt Auschwitz "nie verlassen".
Es klingt, als wären die Zeichnungen Gefangene.
Dina Babbitt sitzt am Küchentisch, die Sonne fällt schräg ins Haus. "Alles, was ich will", sagt sie, "ist, meine Bilder noch einmal in den Händen halten. Ich möchte allein mit ihnen sein für ein, zwei Tage. Ich möchte nicht mal, dass meine Kinder um mich herum sind. Es wäre für mich, wie mit den Menschen auf den Bildern zusammen zu sein." Sie will Frieden finden, "closure" sagen die Amerikaner, Abschluss. Dina sagt, sie könne sich vorstellen, die Bilder danach zu stiften, "und warum nicht dem Museum in Auschwitz?"
Sie redet mit leiser Stimme. Um sie herum ist Streit. Anwälte streiten. Die US- Regierung streitet mit der polnischen Regierung. Ihre Kinder streiten mit dem Museum. Es ist ein lauter Streit. Dina Babbitt, geborene Gottliebová, wird nicht gehört.