Die 68er Let the Sunshine in

Sie glaubten an die Kraft von Blumen und die Macht von Gitarrenklängen. Die musikalischen 68er waren die letzten Romantiker der Kulturgeschichte. Ihre Träume sind verblasst, doch die Popmusik beherrscht bis heute die Welt.

Entweder Daumen und Zeigefinger oder Zeige- und Mittelfinger. Einen auf "Start" und den anderen auf "Aufn". Oder "Rec", wie es bei manchen Geräten schon hieß. So ein Spreizgriff, könnte man heute sagen, kam in den Sechzigern in Mode. Dazu absolute Ruhe und ein hochkonzentrierter Blick auf den Lautsprecher des Radios, vor das man ein Mikrofon gestellt hatte oder es schon mit Bananensteckern und einem Kabel verbunden hatte. Und kaum hörte man das etwas metallische Gitarrenintro von "Street Fighting Man" von den Stones oder das tippelnde Klopfen von "Magic Bus" von den Who, zack, Spreizgriff auf "Start" und "Aufn." am Tonbandgerät, die roten BASF-Spulen drehten sich und, bitte, lieber Gott, lass jetzt niemanden ins Zimmer kommen, und lass den Moderator jetzt nicht "hey, hey, hey" oder so was reinquatschen. So war das 68. Bevor man die Musik, die dabei war, die Welt umzukrempeln, hören konnte, musste man sie erst einmal beschaffen. Und das war nicht leicht. Und meistens nicht Hi-Fi, selten Stereo, sondern Mono aus Fünf- oder Zehn-Watt-Lautsprechern, abgesaugt aus täglichen Ein-Stunden-Sendungen wie "S-F-Beat" in Berlin oder nachts aus den Radioshows der Soldatenwellen BFBS oder AFN oder vielleicht noch bei Radio Luxemburg, "das ging aber nur über Mittelwelle, und das rauschte natürlich", wie sich Hugo Egon Balder, damals 18, erinnert.

Dabei wurde sie, die Rock- und Popmusik, 1968 nicht geboren, sie hatte sogar schon ein paar laute Jahre hinter sich - die Beatles und die Rolling Stones gab es schon seit 1962 und ein Jahr zuvor, 1967, schwappte der kalifornische "Summer of Love" mit Hippiebands wie Grateful Dead und Musikern wie Jimi Hendrix und Janis Joplin auch bis Europa. "Aber es dauerte eben, bis wir das in Deutschland mitbekamen", erinnert sich Wolfgang Kraesze, damals Moderator bei "S-F-Beat" in Berlin. Musikalisch war es in Wahrheit das Jahr des Kinderstars Heintje, der die deutschen Hitparaden mit den von Bruno Balz 1941 geschriebenen Schmachterln "Mama" oder "Du sollst nicht weinen" bewohnte, neben Tom Jones "Delilah". Es gab zweieinhalb Fernsehprogramme mit Serien wie "Graf Yoster gibt sich die Ehre", und nachts sah man das Testbild. Einzig Radio Bremen sendete alle paar Wochen an Samstagnachmittagen eine Stunde den "Beat-Club" mit den legendären Flimmer-und Drehbildern des Regisseurs Mike Leckebusch und frühen Auftritten von Jimi Hendrix oder den Who. "Das war für uns ein sagenhaftes Schaufenster, man wusste ja bei vielen Bands gar nicht, wie sie aussahen oder wie sie spielten", sagt Wolfgang Kraesze. Und Uschi Nerke, damals Moderatorin des "Beat-Clubs", erinnert sich, "dass ich 68 im Fernsehen wirklich die kürzesten Röcke anhatte, die ich mir nähen konnte". Der Look war selbst gemacht, weil es keine hippen Boutiquen gab, und "nach London zu fahren war für mich zu teuer, bei 300 Mark Honorar im Monat".

Wer Platten hatte war reich

Und so war es denn der Mangel an und der Hunger auf musikalische Ware, der ihre subversive Kraft noch erhöhte. Denn die Musik, die aus Radios nachts rauschend zu hören war, versprach so vieles. Und die Texte waren englisch, "Love", "Kiss", "Peace", zum ersten Mal formierte sich in der Kultur eine exklusive Weltsprache, die die Kinder verstanden, die Eltern nicht. Hatte irgendeiner die neue Platte der englischen Band Cream, traf man sich in kleinen Wohnungen, 10, 15 Menschen um einen "Mister Hit"-Plattenspieler von Telefunken versammelt. "Wir fuhren nach Holland, um die richtigen Platten einzukaufen", sagt Hugo Egon Balder, der 68 mit seiner Band Birth Control auf Tournee ging. Und der frühere Musikkritiker des Berliner "Tagesspiegel", Arnd Schirmer, weiß noch, "wie ich mit einer Tüte neuer Platten durch die Kneipen zog und fragte, ob sie die mal auflegen könnten, und am Tresen machte ich mir dann Notizen. Einen Plattenspieler hatte ich nicht". Wer einen hatte, war cool, verdammt cool. Nur noch wenige erinnern sich an Zeiten, als in die Berliner Kneipe "Dicke Wirtin" manchmal ein lauter Typ mit Zorro-Hut und Stiefeln kam, einen tragbaren Plattenspieler aufstellte und so laut es ging "Goin' Home" von der Stones-Platte "Aftermath" spielte, das Stück ging unerhörte elf Minuten lang. Der Typ hieß Andreas Baader.

Wer Platten hatte, war reich, denn Platten waren, wenn man sie denn bekam, auch noch teuer. 5 Mark die Single, fast 20 Mark die LP, "und man musste immer und immer wieder beim Händler nachfragen, ob die neue Stones-Platte nun da sei und dass er sie doch dringend bestellen sollte", sagt SFB-Mann Kraesze. Dennoch, auch wenn es von heute aus betrachtet anders aussieht, war die 68er-Symbiose aus Pop und Politik keine Paarung, sondern eher ein zufälliges Nebeneinander. Manchmal verschmolz das an den Rändern des Aufbruches, aber zu einer wirklichen Einheit wurde es nie. Pop und Politik blieben in Europa Patchwork-Geschwister aus getrennt lebenden Familien. Anders als in den USA, wo die Tradition des Folk und die Poesie von "Blowin' In The Wind" aus Bob Dylan oder Joan Baez Protestsänger machte und der Blues der Schwarzen schon in der Wurzel politisch war, wurde die neue Musik in Europa zwar als Ausbruch aus einer mottenkugeligen Spießergesellschaft, aber nie als Aufbruch politischer Utopien begriffen. "Das waren Kinder, die im Keller Musik machten und die nun endlich ans Licht durften und auch noch Geld verdienten", sagt Uschi Nerke heute. Und auch Balder macht Abstriche: "Es war eine großartige Zeit, alles veränderte sich, und ich wollte Musik machen und Mädchen verführen. Aber mit der Apo und den Demonstrationen hatte ich nichts zu tun."

Rock'n'Roll warf erste tragische Schatten

Selbst augenscheinliche Soundtracks der Straßenschlachten, wie "Street Fighting Man" von den Rolling Stones, wurden politisch missverstanden, denn "was kann ein armer Junge anderes tun, als in einer Rock'n'Roll-Band zu singen", singt Jagger da bloß. Bei der großen Londoner Anti-Vietnam-Demonstration im März 68 lief Jagger zwar mit - aber nur ein paar Straßen weit, bis die ersten Steine flogen. Heute sagt er: "Ab 68 spürte man, dass alles, was vorher rumorte und experimentiert wurde, richtig in Bewegung geriet. Das war die Magie des Jahres, wir spürten, es würde sich etwas verändern." Es veränderte sich auch etwas. Der Rock'n'Roll warf seine ersten tragischen Schatten, der anarchische und hemmungslose Umgang mit Drogen forderte seine Opfer. Im Juli 1969 lag Stones-Gitarrist Brian Jones mit einer Überdosis tot in seinem Swimmingpool, ein weiteres Jahr später erstickte Jimi Hendrix in London an Erbrochenem, und Janis Joplin starb in Los Angeles an einer Überdosis Heroin.

Selbst die weltweiten Proteste gegen den Krieg in Vietnam, die Straßenschlachten und Schießereien an amerikanischen Universitäten, die Ermordung Martin Luther Kings färbten nur selten auf die damaligen Großen des Rock ab. So spielte Eric Clapton zwar zufällig am Tag der Ermordung von King, am 4. April 1968, in den USA, sagt aber heute, "da ich mich nie für Politik interessiert hatte, war ich ahnungslos und kümmerte mich nicht um die Entwicklungen. Hin und wieder traf ich politische Aktivisten aus dem Untergrund, meistens versuchte ich aber, ihnen aus dem Weg zu gehen." Und die Beatles? Die alles bestimmende Band jener Jahre? Waren erst mal gar nicht da. 1967 hatten sie ihr erstes großes Konzeptalbum, "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band", herausgebracht, 1968 dann schrieb Lennon nach den Pariser Mai-Unruhen noch den Song "Revolution". Der klang zwar militant, war aber mit der Zeile "wenn du von Zerstörung sprichst, mache ich da nicht mit" eine pazifistische Absage an Gewalt. Schon im Februar 68 hatten sich die vier Beatles nach Rishikesh in Indien verzogen, um mit dem Maharishi Mahesh Yogi Bewusstseinserweiterung zu üben. Mit sehr unterschiedlichen Erfolgen und Folgen, die dann 1970 zur Trennung der Beatles führten.

Bett- statt Tet-Offensive

Aber ob nun "Revolution" oder ein schlicht unpolitisches "Friends" von den Beach Boys, ob "The Way Young Lovers Do" von Van Morrison oder "Crown Of Creation" von Jefferson Airplane, ob Barrikadensound, Hippie-Getaumel, Folklieder, der neue scharfe Soul der schwarzen Musiker wie James Brown oder einfach nur scheppernd-lauter Rock, 1968 orchestrierte die gesamte Musik einen Aufbruch, einen neuen Lebensstil, eine Befreiung. Und eine geheime Sprache, glaubten jedenfalls viele. Lange wurde diskutiert, ob mit den Anfangsbuchstaben von "Lucy In The Sky With Diamonds" von den Beatles nicht einfach nur LSD beworben wurde, und immer wieder wurde geraunt, dass die Detroiter Politrockband MC5 mit "Kick Out The Jams, Motherfuckers" die revolutionären Wonnen des Samenergusses besangen. Musikalisch durchbrach vor allem Jimi Hendrix aus Seattle alle Schranken des Rock'n'Roll. Mit seinem improvisierten Spiel machte er den Gitarristen zum Star. Mit seinen Experimenten und "Wah-Wah"-Toneffekten setzte er Meilensteine in der Rockmusik, seine Aktionen - Gitarrenverbrennung auf der Bühne, Spielen mit den Zähnen, die musikalische Zertrümmerung der amerikanischen Nationalhymne - zelebrierte er als Happenings.

Hendrix' Doppel-LP "Electric Ladyland", erschienen im November 1968, wurde verehrt, als wäre es die Faust-Dichtung der neuen Musik. Nur die in der Apo-Bewegung verhärtete kommunistische Linke sah in solch neuer Musik etwas wie den Tanztee der Bourgeoisie, eine Spielart bürgerlicher Betäubung, die vom Sturm auf irgendwie alles ablenken sollte. Mit politischer Strammheit legten solche Genossen Ernst-Busch-Platten mit Brechtgetränkten 30er-Jahre-Liedern auf wie "... und weil der Mensch ein Mensch ist ..." oder "Vorwärts und nicht vergessen ...". Oder sie versammelten sich um die damals linken Liederbarden Hannes Wader und Franz-Josef Degenhardt. "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" hieß einer seiner Hits. Tanzen konnte man dazu nicht. Und Sex machen auch nicht. Aber, ganz ehrlich, darum ging es meistens bei den musikalischen 68ern. Nicht um Marx, sondern um Masturbation, nicht um die Tet-Offensive in Vietnam, sondern um die Bett-Offensive. "Ich dachte nur daran, dass ich alle Mädchen in der ersten Reihe ins Bett bekomme", sagte Jimmy Page nach dem ersten Led-Zeppelin-Konzert.

68 war für viele vor allem das Kürzel für sexuelle Befreiung, Mick Jagger tauchte seine Hand in die sichtlich gefüllte Hose, Jim Morrison von den Doors ließ sie auf der Bühne gleich fallen. Die Pille war erfunden, und deshalb nannte sich Balders Band Birth Control. "Bei Leonard Cohen wurden die Mädchen weich", sagt der frühere Musikkritiker Arnd Schirmer. Und so wurden auch die immer zahlreicheren Konzerte nicht Orte, um Musik zu hören, sondern Brautschauen einer Gegengesellschaft. "Zum Musikhören taugten die sowieso nicht", erinnert sich Balder, "die Verstärkeranlagen der Bands waren so lausig, dass man kaum etwas hören konnte, und das bisschen ging im Gekreische der Mädchen unter." 1967 hatte sich in San Francisco das Konzertleben aus den kleinen Kellern ins Open Air verlagert, die Kultband Grateful Dead spielte gratis im Golden Gate Park, und im Juni 67 zogen Tausende erstmals zum Monterey Festival. Dort, fernab von Städten, Gesetzen und Polizei, lebten die Hippies erstmals eine Art Utopia in freier Natur, man rauchte ungestört Haschisch, liebte sich auf den Wiesen und, ach ja, hörte Musik.

Alles war miteinander verbunden

Politisch war das, weil es ein Utopia war, mit dem Peace-Zeichen auf VW-Bussen als Wahrzeichen. Zum ersten Mal formierte sich Jugend nicht als Altersangabe, sondern als Kultur. Und anders als die subkulturellen Bewegungen der Jahre davor, die meistens in den belächelten Nischen des Rock'n'Roll und der Halbstarken und der Bürgerschrecks blieben, hatte 1968 eine ganz andere Kraft. Die Musik, das Kino, die Kunst, die Literatur - in all ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit bewegten sie doch zusammen zum ersten Mal das Rad einer großen gesellschaftlichen Umwälzung. Alle spürten, dass das, was sie bei den Konzerten, Festivals und am Radio erlebten, nicht wieder rückgängig zu machen war. Der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci, der 2004 mit seinem Film "Die Träumer" der Zeit ein Denkmal setzte, sagt: "Es gab eine großartige Fusion von Musik und Politik, Poesie und Straße, Sex und Drogen. Alles war miteinander verbunden. Miteinander zu schlafen war politisch, und ins Kino zu gehen war erotisch. Man ging 68 mit dem Gefühl ins Bett, nicht einfach am Morgen, sondern in der Zukunft aufzuwachen."

Und so verwandelten sich in den späten 60er Jahren Konzertwiesen, Kinos und Buchhandlungen in autonome Orte. Rudi Dutschke, erzählte man sich, konnte sich bei Louis Malles Revolutions-Cancan "Viva Maria" mit Brigitte Bardot und Jeanne Moreau wie Bolle amüsieren, in anderen Kinos waren Filme von Jean-Luc Godard und François Truffaut ausverkauft, in den USA wurde der Film "Easy Rider" gedreht, und die neue, libertär-erotische Kultur fand ihre Bilder in "Die Reifeprüfung" mit Dustin Hoffman und der Musik von Simon and Garfunkel. Aber auch in Deutschland wurde der Film subversiv. Rainer Werner Fassbinder drehte in nur neun Tagen "Katzelmacher", die Geschichte eines griechischen Einwanderers. In Bremen verfilmte der Theater-Wilde Peter Zadek seine anarchische Revue "Ich bin ein Elefant, Madame". Und aus New York war schon "Let The Sunshine In" zu hören, die Hymne übers Liebhaben aus dem Hippie-Musical "Hair", das seit 1967 am Broadway dem bürgerlichen Publikum erklärte, was die mit den langen Haaren eigentlich meinten und dass das alles auch seinen Reiz hat.

Veränderungen am Herzrhythmus der Welt

Wie schnell und nachhaltig sich dieses Gefühl ausbreitete, war 68 nicht messbar. Umfragen und Marktforschung steckten noch in den Kinderschuhen, Radio und Fernsehen berichteten nur von Krawallen, Polizei und der Gefahr für Sitte und Ordnung. Die Jugendzeitschrift "Bravo" schrieb über die Winnetou- Filme und Roy Black. Nur in Großstädten wie Berlin bekam man am Bahnhof mit einem Monat Verzögerung die amerikanische Zeitschrift "Rolling Stone" und las in den Geschichten von Hunter S.Thompson, dass auch im Journalismus ein neuer Ton angeschlagen wurde. Direkter, subjektiver, beteiligter. Der US-Journalist Tom Wolfe brachte in den 60er Jahren mit seinen Büchern "Das bonbonfarbene tangerinrot gespritzte Stromlinienbaby" und "The Electric Kool-Aid Acid Test" stürmischen Wind in die Literatur. Beseelt von der Prosa der amerikanischen Beat-Autoren brachte Rolf Dieter Brinkmann 1969 mit "Acid - Neue amerikanische Szene" die erste Anthologie über 68er-Avantgardeliteratur heraus. Es war wie das Räderwerk einer großen Zukunftsmaschine, jeder schrieb, malte, dichtete, fotografierte oder filmte in die neue Zeit hinein. Auch weil man einen Luxus hatte, den man heute nicht mehr kennt: Zeit. Es waren ja studierende Eliten, die sich da austobten, irgendeinen Job würden sie schon finden, wenn mal der "Ernst des Lebens" an die Tür klopfen sollte.

"Wir lebten in den Tag hinein, irgendwie war das Leben bezahlbar, und Angst vor morgen hatten wir alle nicht", sagt Hugo Egon Balder. In Kellern in London, New York oder Paris spielten sich neue Bands wie Genesis, Led Zeppelin oder Deep Purple warm, weil die Nachfrage nach mehr und neuer Musik immer größer wurde. "Die Plattenfirmen fingen an zu verstehen, dass hinter der Musik auch ein großes Geschäft winkte, und boten uns auf einmal alle möglichen Künstler an", sagt "Beat-Club"-Moderatorin Uschi Nerke. In Köln und Berlin gründeten sich deutsche Tüftler-Bands wie Can oder Amon Düül, die akademisch-elektronische Klänge produzierten und später im Ausland missverständlich als "Kraut-Rock" gefeiert wurden. Vor allem Can um den Kölner Holger Czukay setzte damals neue Maßstäbe in der elektronischen Musik, die bis heute ihre Fans hat. In Frankfurt sah der Student Lutz Reinecke die Versorgungsprobleme in der Provinz, wo man Wochen warten musste, bis eine neue Platte oder ein neues Buch in die Läden kam, und gründete den Versandhandel 2001, benannt nach dem Kultfilm "2001 - Odyssee im Weltraum". Nein, das alles war jetzt keine modische Eintagsfliege mehr, keine Randnotiz der Kultur, das waren Veränderungen am Herzrhythmus der Welt.

Woodstock - ein Pilgername

Wie groß sie sein würden, überraschte ein Jahr später selbst die Macher eines weiteren Open-Air-Festes, für das die Bewohner des Künstlerdorfes Woodstock, 150 Kilometer nördlich von New York, zunächst keine Wiese fanden, um eine Bühne darauf aufzubauen. Die Farmer der Umgebung fürchteten den Andrang von Langhaarigen und die Haschisch-Wolken, die da kommen sollten - immerhin 60.000 Besucher wurden erwartet. Erst ein Farmer im 80 Kilometer entfernten Bethel stellte seine Wiese zur Verfügung, auf die John Roberts und Joel Rosenman Anfang August eine Bühne aus Holzbrettern bauten und an Masten ein paar große Lautsprecher schraubten. Was dann passierte, überstieg alle Vorstellungen. Fast eine Million Menschen machte sich aus ganz Amerika auf den Weg in die entlegene Provinz, zur Wiese selbst schafften es nur 400.000. Sie gaben in den folgenden drei Tagen, am 15., 16. und 17. August 69, der weltweiten Musik- und Kunstbewegung mit "Woodstock" einen Pilgernamen. Kein Festival wurde so zum musikalischen Symbol und Mythos der 68/69er wie diese drei Tage "Love and Peace". Wer hier, wie Santana, Joe Cocker, Ten Years After, Country Joe Mc-Donald mit seinem zynischen "No war, no war" und am Ende Jimi Hendrix mit einer akustischen Maschinengewehr-Imitation gegen den Vietnamkrieg spielte, machte sich zur Legende einer auch politisierten Generation. Woodstock wurde zum Urknall einer neuen, mit ökologischer Vernunft getränkten antiautoritären Bürgerlichkeit stilisiert.

Und als ob man auf der Wiese noch heute diesen Geist einfangen könnte, kommen viele immer wieder hierher. Obwohl es nicht viel zu sehen gibt: einen Hügel, ein Kulturzentrum, ein kleines Denkmal, einen geschnitzten Totempfahl mit den Gesichtern von Janis Joplin, Jimi Hendrix und Richie Havens und, weiter unten am Hügel, einen grasbewachsenen Steinschotterhaufen. Und es gibt Duke Devlin, 66, einen freundlichen Menschbär in Latzhose, mit Meterbart und vergilbten Fotos von damals in einer Mappe, die er vor sich hat. Duke Devlin sitzt an der Wiese wie ein Gralshüter, er sagt, dass unten, wo die Schottersteine liegen, früher die Bühne war und dass es eine Stelle gibt, an der Jimi Hendrix gepinkelt hat. Er sagt das oft, denn an Wochenenden kommen viele hierher, viele, die sagen, dass sie damals dabei waren. Heute haben sie Glatzen und Bäuche, sind schon ein- oder zweimal geschieden, und eine Frau seufzt, dass sie 69 nach stundenlanger Autofahrt gleich wieder abgefahren sei, weil es keine Toiletten gab und es geregnet hat und stank. Wäre sie doch lieber geblieben. Bethel gehört heute zu einer verlassenen Gegend Amerikas. An den Straßen stehen unzählige Häuser mit "for sale"-Schildern, nur in das Kulturzentrum kommen manchmal noch Künstler, Bob Dylan war auch schon da. Duke Devlin sagt, dass er damals zur "Love Squad" gehörte, zur Hilfetruppe, die versuchte, wenigstens Wasser, Brot und Äpfel für die hungrigen, haschischverträumten Menschen zu beschaffen. Und Toiletten, die hätten sie über Nacht herbeigekarrt, und hinten am See hätten dann alle gebadet, "nackt", sagt Duke, und dabei geht ein Schimmer über seine Augen.

Das Vermächtnis der 68er

40 Jahre später könnte man über sie spotten, über die Duke Devlins in Bethel, über die 60-jährigen Lehrer, die immer noch zu "Satisfaction" herumhopsen, über die homöopathischen Ärztinnen, die Songs von Joan Baez auswendig können, über die Besserwisser mit Bart, die nicht wahrhaben wollen, dass sich Musik heute anders anhört. Aber das wäre ungerecht. Keine andere Generation hat sich ihre Subkultur so sehr erkämpft, erträumt und versucht, daraus ein Leben zu machen, wie die musikalischen 68er. Kulturgeschichtlich waren sie die Letzten, die noch so etwas wie die klassische Romantik, den Geist von Büchners "Lenz", das einfach mal "auf dem Kopf zu gehen", einforderten und hemmungslos auslebten. Die Macht kommt aus den Gitarrenhälsen - das mag ein verhaschischter Gedanke gewesen sein, aber es war wenigstens einer. Fragt man sich heute, was von den musikalischen 68ern geblieben ist, muss man sagen: alles. Das sagt viel über die Kraft von Kultur. Pop- und Rockmusik ist heute Hegemonialkultur. Sie tropft aus Fahrstuhllautsprechern, sie verkauft Autos wie die VW-Golf Edition "Rolling Stones", sie ist der Stoff, von dem MTV und Viva leben, sie wird aus 100 Millionen iPods gehört. Was 67/69 mit Monterey und Woodstock begann, sichert noch heute ausverkaufte Stadien, wenn die Rolling Stones, Genesis oder Police touren. Gegenwelten, und sei es nur für einen Feierabend. Daran muss man denken, wenn man sich heute mit einem Mausklick am Computer irgendeinen Song "downloaded". Das alles fing mal mit dem Spreizgriff, "Start" und "Aufn.", an.

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